Mindestens 60 Menschen aus Jena wurden zwischen September 1940 und August 1941 in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Erkrankungen von den Nationalsozialisten umgebracht. Der Arbeitskreis „Sprechende Vergangenheit“ hat in einem langjährigen Forschungsprojekt versucht, ihren Lebensspuren zu folgen und die Umstände ihrer Ermordung aufzuhellen. Auf seine Initiative hin ist am historischen Rathaus am 1. September 2019 eine Gedenktafel enthüllt worden, auf der die Namen der Opfer, ihr Geburts- und Sterbedatum genannt werden. So sind sie in das Gedächtnis der Stadt zurück geholt worden. Es ist ein Ort der Erinnerung entstanden, an dem man sich zum Gedenken zusammen finden kann, in städtischer Verantwortung und nachdenklichem Respekt, wo man für die Opfer als Zeichen der trauernden Erinnerung Blumen niederlegt. Es ist ein guter und notwendiger Ort.
Wenn der Arbeitskreis „Sprechende Vergangenheit“ nun damit beginnt, für diese ermordeten Menschen Stolpersteine setzen zu lassen, wird eine weitere und andere Möglichkeit der Erinnerung eröffnet. Die Stolpersteine unterbrechen unseren gewöhnlichen Gang durch bekannte Straßen, lassen uns im Alltag „stolpern“, vielleicht einen Moment innehalten. Was war hier? Wer war hier? Die Erinnerung gewinnt an Kontur, an Individualität.
Es ist ein Ort für unsere Nachfragen entstanden, und es ist zugleich ein Trauerort für die Nachfahren.
Stifter und Paten für die Stolpersteine zu finden, ist von jeher in Jena nicht besonders schwierig; das zeigt vielfache Anteilnahme und Interesse. In diesem Jahr werden die Steine von Privatpersonen, von einer Schule und von Vertretern der SPD – eines der Opfer war langjähriges SPD-Mitglied – gesetzt. Und die Liste derer ist lang, die sich für eine weitere Patenschaft interessieren. In diesem Sinne sind die Stolpersteine auch Orte der zivilgesellschaftlichen Beteiligung und Verantwortung.
Ursprünglich war geplant, mit noch einem weiteren Stein an die Opfer der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein zu erinnern. Dass ein Enkel dies ablehnte zeigt, wie schwierig und belastend der Umgang mit der familiären Vergangenheit sein kann. Denn diese Ablehnung war Ausdruck einer tiefen Verunsicherung. Die von uns recherchierten Fakten, die wir durch Archivstudien und Kontakte zu der heutigen Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein gewinnen konnten, ließen die familiäre Erinnerung auf einmal zusammenstürzen. Da gab es im Haus des Enkels die Sterbeurkunde für den Großvater, die den Stempel Hartheim bei Linz (Oberdonau) trug; es lag ein „Trostbrief“ vor, in dem von einem „sanften und nicht schmerzhaften Tod“ die Rede war; es war eine Urne zugestellt worden, die im Jenaer Familiengrab Platz fand. Und auf der anderen Seite das Gedenk- und Opferbuch der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein, in dem akribisch genau die Ermordung des Großvaters festgehalten wurde. In Pirna-Sonnenstein verstarb niemand „sanft und nicht schmerzhaft“, sondern er wurde dort in einer 21 qm großen „Duschkammer“ vergast, mit ihm noch 20 andere Menschen. Und seine Asche wurde nicht in eine Urne abgefüllt, sondern sie wurde hinter der Tötungsanstalt den Elbhang hinunter gekippt.
In Pirna–Sonnenstein hatte es einen Sonderbeauftragten gegeben, dessen Aufgabe darin bestand, die Verwandten mit gefälschten Dokumenten in die Irre zu führen und so weitere Nachforschungen zu verhindern. Diese Information durch die Wissenschaftler der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein war ein Schock. Und es ist verständlich und zu respektieren, dass man nun erst einmal in Trauer und innerhalb der Familie mit diesen erschreckenden Tatsachen umgehen möchte, vielleicht wird es später einen Stolperstein geben.
Diese Erzählung von dem vorerst nicht gesetzten Stolperstein soll darauf verweisen, dass die Stolpersteinsetzung kein Ritual ist und sein darf, sondern dass diese etwas zu tun hat mit uns selbst, mit uns etwas macht. Spürbar ist das auch am 9. November, wenn in Jena der „Klang der Stolpersteine“ ertönt und sich hunderte Menschen an den Stolpersteinen treffen, zur Erinnerung, zur Besinnung, zur Mahnung.
In diesem Jahr erinnern wir an:
Luise Eismann
Luise Eismann wurde am 15. August 1906 in Jena geboren. Im August 1934 kam sie in das Carl-Friedrich-Hospital in Blankenhain. Es erfolgte eine Meldung an das Erbgesundheitsgericht und es wurde ein Verfahren zur Sterilisation eingeleitet. Am 7. November 1940 wurde Luise Eismann im Rahmen der Aktion T4 in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein umgebracht. Sie wurde 34 Jahre alt. Ihr letzter Wohnaufenthalt vor ihrer Klinikeinweisung war Jena, Unterm Markt 7. Dort arbeitete sie als Hausangestellte.
Gertrud Korte
Gertrud Korte wurde am 6. Oktober 1880 in Jena als Tochter des Stadtrevisors geboren. 1907 begann ihre Krankengeschichte. Sie wurde in die Landesanstalt nach Stadtroda verlegt, der Vater wollte sie auf keinen Fall wieder zu Hause aufnehmen. 1915 kam sie dann nach Blankenhain, es schlossen sich weitere Aufenthalte in Stadtroda an. Am 12.11.1940 wurde sie nach Pirna-Sonnenstein gebracht, wo sie unmittelbar nach ihrer Ankunft am gleichen Tag ermordet wurde. Gertrud Korte wurde 60 Jahre alt. Sie wohnte bis zu Beginn ihrer Krankheit in der Rathausgasse 1.
Meta Langstroff
Meta Langstroff wurde am 30. April1891 in Bad Liebenstein geboren. Sie lebte mit ihrem Mann und 2 Kindern in Jena in der Lutherstraße 72. 1937 wurde sie in die Landesheilanstalt Stadtroda aufgenommen, am 26. September 1940 wurde sie in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein gebracht und dort ermordet. Sie wurde 49 Jahre alt.
Kurt Hanitzsch
Kurt Hanitzsch wurde am 27.April 1882 in Chemnitz geboren. Er erlernte den Beruf eines Kaufmanns. 1910 heiratete er, 1911 wurde seine Tochter geboren. Nach seiner Teilnahme am 1. Weltkrieg zog er nach Jena und war als Handelsvertreter tätig. Die Familie wohnte in der Golmsdorfer Straße 9. Er war langjähriges SPD-Mitglied. Kurt Hanitzsch wurde 1935 verhaftet und in das KZ Bad Sulza gebracht. 1937 kam er in die Landesheilanstalt Blankenhain. Am 18. September 1940 ermordete man ihn in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein.
Ein weiterer Stolperstein wird gesetzt für ein kleines Mädchen, dessen Schicksal Schüler:innen der Waldorfschule in der Gedenkstätte von Auschwitz erforscht hatten.
Sonia Maria Wagner
Sonia Maria Wagner war ein Kind aus einer Roma-Familie. Sie wurde am 28. April 1934 in Jena geboren. Das Jenaer Jugendamt übernahm die Vormundschaft. Die Familie hielt sich in der Folge an verschiedenen Orten auf, wurde 1943 dann nach Auschwitz deportiert, wo Sonia Maria Wagner am 15. Juni 1943 ermordet wurde. Sie wurde 9 Jahre alt. Der Stein ist am Gries platziert, da hier in den 1920er Jahren ein Stellplatz für Wagen der Roma und Sinti war.
Zeitplan für die Setzung der Steine:
9.00 Uhr: Unterm Markt 7 für Luise Eismann
ca. 9.20 Uhr: Hinterm Rathaus (ehemals Rathausgasse 1) für Gertrud Korte
ca. 9.50 Uhr: Lutherstraße 72 für Meta Langstroff
ca. 10.20 Uhr: Brücke Am Gries für Sonia Maria Wagner
ca. 10.50 Uhr: Golmsdorfer Straße 9 für Kurt Hanitzsch
Diesen Gastbeitrag verdanken wir Frau Dr. Gisela Horn, Germanistin, Buchautorin und engagierte Bürgerin, u.a. im Arbeitskreis „Sprechende Vergangenheit“ e.V.
Die Idee für das dezentrale Erinnerungsmal STOLPERSTEINE stammt von Gunter Demnig. Seit 1992 verlegt er für die Opfer der NS-Zeit vor ihrem letzten selbstgewählten Wohnort Gedenktafeln aus Messing ins Trottoir. Inzwischen liegen STOLPERSTEINE in 1.265 Kommunen Deutschlands und in 21 Ländern Europas. Jeweils am 9. November werden in Jena die Opfer beim „Klang der Stolpersteine“ geehrt.