Ein Gastbeitrag von Thomas Eckardt
EIGENTLICH sollte mein blog-Beitrag den Titel bekommen:
„The Times They Are a Changing – Die Zeiten ändern sich“ oder „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“
(Albert Einstein, dt.-amerik. Physiker, 1879–1955)
Dann las ich den blog-Beitrag von Tilo Schieck (Systemrelevanz“ – Wer oder was ist „systemrelevant“ oder auch nicht?) zur Klubszenensituation in Jena. Dieser hat mich ermutig auch einige Überlegungen zur aktuellen Situation einzubringen.
Und ja auch das soll ausdrücklich angemerkt sein, dem Jazz geht es nach wie vor nicht sonderlich gut in unseren Breiten, das wird oft vergessen …!
Aber auch auf einen besonderen Osterspaziergang bin ich aufmerksam geworden. (blogbeitrag Jonas Zipf trifft Prof. Dr. Hartmut Rosa). Eine wohltuende und auch in der Ausführlichkeit sehr empfehlenswerte Osterlektüre.
EIGENTLICH ist vieles von dem, was ich beitragen wollte, schon gesagt, und dies sehr tiefgründig, gewissermaßen das wissenschaftliche Fundament, in der sich die aktuellen Gegebenheiten abbilden.
Also löschte ich alles bisher Verfasste, und beschloss einem wohlgemeinten Rat zu folgen.
Erst mal Innezuhalten, um mich dann an Roger Willemsens zu erinnern (MUSIK! – über ein Lebensgefühl). Und plötzlich zeigten sich bemerkenswerte Annäherungen an aktuelle Situationen, wie dies so trefflich im Osterspaziergang beschrieben wird.
Wie gesagt:
EIGENTLICH wollte ich über die Chancen nach den Krisen schreiben und wie sich Nachkrisenrelevanz darstellen könnte.
EIGENTLICH wollte ich darüber nachdenken, wie ein „nicht einfach so weiter machen“ nach der Krise aussehen könnte!
Über die Hoffnung und Chancen auf dem Wegfall des Dauerbetriebes des Belanglosen! Die Möglichkeit der Unterscheidung von Wichtigen und Unwichtigen könnte es wieder möglich machen, zwischen Belanglosem und Bedeutenden zu unterscheiden, wie der Kulturtheoretiker Bazon Brock es ausdrückt.
EIGENTLICH wollte ich nach Werten fragen, die dem Diktat der Eventkultur etwas Beständiges, Dauerhaftes entgegenstellen und damit Qualität statt Quantität den Vorzug geben.
EIGENTLICH wollte ich über das WIE ein Konkretes gemeinsames Handeln aussehen könnte, eine Diskussion eröffnen (gern an: info@jazzmeile.org).
EIGENTLICH wollte ich fragen, warum es so schwer ist, bestehende Vorurteile wie z. B. Jazz ist intellektuell, schwer verständlich, kurz nicht spaßkompatibel und darum abzulehnen, abzubauen.
Leider sind Einsteins Worte“ Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil“ immer noch gültig.
EIGENTLICH wollte ich der Frage nachgehen, warum Jazz als Kunstform gefährdet und so wenig wertgeschätzt wird (zumindest in unserer Region) und woanders als die neue Klassik wahrgenommen wird und auch so gefördert wird! Somit auch die unsägliche Einteilung in E und U Musik ad absurdum geführt wird.
EIGENTLICH wollte ich dafür danken, dass es heute möglich ist diese Gedanken zu äußern, und dass uns allen ein wenig Demut gut zu Gesicht stünde, im ständigen Verlangen nach dem immer noch spektakuläreren Event.
Unser Tun ist sicher nicht vordergründig systemrelevant – dafür aber besonders reichlich glücksgefühlrelevant!
Thomas Eckardt, Jazzmeile Thüringen
EIGENTLICH wollte ich nachfragen, warum uns oft das konzentrierte Zuhören von Musik verloren gegangen ist, und damit auch die Chance zu unverhofften spontanen Genuss. Unser Tun ist sicher nicht vordergründig systemrelevant – dafür aber besonders reichlich glücksgefühlrelevant!
EIGENTLICH wollte ich das Erinnerungstagebuch von Erwin Pelzig als „Chronist“ der Krise anpreisen, und der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass es noch um einige Kapitel erweitert wird. Möge.
EIGENTLICH wollte ich über meine Wege zum Jazz berichten, und was er auszulösen vermag, aber wenn es mir gegeben wäre, würde ich GANZ SICHER dies genau so ausdrücken wie es nachfolgend von Roger Willemsen so großartig in Worte gegossene Liebeserklärungen an den Jazz macht!
„Man kann sagen, Jazz sei die klassische Musik des 20. Jahrhunderts. Man kann sagen, er sei Ausdruck der Emanzipation von Diskriminierung und politischer Unterdrückung. Man kann auch sagen, er enthalte die schönsten Formen existentieller Freiheit, er sei Klima, Atem, Luft von vorn, er synchronisiere das Innenleben des modernen Menschen mit der Großstadt, dem Tempo der Bewegungen, den zerstückten Wahrnehmungen, dem Kino, der Erotik. Das alles kann man sagen, und doch wird das Erste, was den empfängt, der in den Jazz eintritt, etwas Grundsätzlicheres sein: Das Lebensgefühl, das Jazz heißt, entwickelt sich in einem Klima der Wahrhaftigkeit, der Geradlinigkeit, der Evidenz. Es ist künstlerisch zugleich so komplex, und andererseits ist es einschüchternd unverblümt, ansteckend ‚live‘ – am Leben.“
… und weiter schreibt er:
„Der Jazz hat sich, wo er sich ernst nahm, nicht einschränken lassen – von tonalen Gewohnheiten so wenig wie von kommerziellen Spekulationen und Gewissheiten. Er hat einen Raum besetzt, in dem es mehr gibt als ein paar stereotype Dreiklänge und einen durchgehaltenen Beat, er hat sich allen Schichten geöffnet und die Bildung einer exklusiven Kunst-Kirche verweigert. Nicht für Eingeweihte allein soll er sein, sondern für Priester, Sklaven, Arbeiter, Großstädter, Jugendbewegte, Lyriker, und Impressionisten, er will aus dem Muff evangelischer Wollwaren treten, will nicht Pfeifenraucher Musik sein, nicht an geheimsprachlicher Diskurse vollbärtiger Feierabenddozenten erinnern. Direkt will er genommen werden in seinem Ringen um das Gemeinschaftliche in der musikalischen Kommunikation, als Reflex von Erfahrungen, die außerhalb der Musik liegen, als expressives Massiv!“
(Aus: Roger Willemsen „MUSIK! Über ein Lebensgefühl“)
P. S.: Nachtrag :
Neuigkeiten der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Meldung vom: 3. April 2020, 14:34 Uhr | Verfasser/in: Ute Schönfelder
„Die Beschleunigungsgesellschaft hat sich selbst stillgelegt: Geschäfte sind geschlossen, der Flug- und Autoverkehr erheblich eingeschränkt, Unternehmen und Dienstleister haben ihre Aktivitäten heruntergefahren und das alles innerhalb weniger Wochen. Doch was kommt nach der Coronakrise? Der Soziologe Prof. Dr. Hartmut Rosa sieht die Welt an einer historischen Weggabelung. Entweder bringt uns der Lockdown den Systemzusammenbruch oder es gelingt, auf den Wachstums- und Beschleunigungskurs der Vergangenheit zurückzukehren. Möglich ist aber auch ein dritter Weg: eine Entwicklung, bei der Märkte in politisches Handeln und kulturelles Gestalten eingebettet sind. Welche Tendenz sich durchsetzen wird, sieht Rosa offen. Frage ist, ob wir uns etwas Neues einfallen lassen oder ob wir so schnell wie möglich wieder in die alten Pfade zurückkehren.“
Liebe Leser, was meinen Sie??