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Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus 2024

27.01.2024

Sehr geehrte Damen und Herren,

vor gut zwei Wochen veröffentlichte die Recherche-Plattform Correctiv Informationen zu einem Treffen hochrangiger AfD-Politiker, Neonazis und finanzstarker Unternehmer im November des vergangenen Jahres in einem Hotel bei Potsdam. Sie planten nichts Geringeres als die Vertreibung von Millionen von Menschen aus Deutschland, von Menschen mit Migrationshintergrund, von Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft.

Mehrere AfD-Politiker versuchten danach die Dimensionen der Überlegungen und Gedankenexperimente herunter zu spielen und verwiesen darauf, dass die AfD schon lange das Ziel der Abschiebung und Ausweisung von Menschen verfolge und dies im Parteiprogramm nachzulesen sei.

Diese Verharmlosung ist das eigentlich Erschreckende. Denn hier offenbart diese Partei ihr wahres Gesicht, indem sie gar nicht erst ernsthaft und oder gar überzeugend versucht, sich von derartigen inhumanen Überlegungen zu distanzieren. Selbst Menschen, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen und nicht in das Wertesystem der AfD passen, könnten sich nicht mehr sicher sein, in diesem Land leben zu dürfen.

Seit dem letzten Wochenende rollt eine Welle von Protest-Demonstrationen mit vielen hunderttausend Menschen durch das Land. Auch hier in Jena waren es nach meiner Einschätzung weit mehr als die von der Polizei gemeldete Zahl von dreieinhalb Tausend Menschen. Es ist wie ein Erwachen der Gesellschaft, die an demokratischen und humanistischen Werten festzuhalten gewillt ist.

Dass die Gedankenexperimente zur massenhaften Deportation von Menschen mit Migrationshintergrund zigtausend Menschen zu Protesten auf die Straße führen, stimmt mich froh und zuversichtlich. Aber wir alle wissen, dass das noch lange kein Sieg ist.

Die wahren Bewährungsproben stehen uns noch bevor mit den kommenden Wahlen und den Ergebnissen, mit denen wir danach werden umgehen müssen.

Es ist wichtig, dass wir in die gegenwärtige Auseinandersetzung um unsere Zukunft das Wissen um die Geschehnisse der Vergangenheit immer wieder einfließen lassen. Deswegen bin ich froh, dass wir heute hier zu unserem alljährlichen Gedenken am Holocaust-Gedenktag, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zusammen gekommen sind.

Der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ wird in Deutschland seit 1996 als Gedenktag begangen und dient der Erinnerung an alle Opfer des NS-Regimes: Juden, Christen, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle, politisch Andersdenkende sowie Männer und Frauen des Widerstandes, Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Kriegsgefangene und Deserteure, Zwangsarbeiter – an die Millionen Menschen, die unter nationalsozialistischer Gewaltherrschaft entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden.

Ende 2005 erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 27. Januar zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts“. Seit 2006 wird er weltweit begangen.

Im kommenden Mai jährt sich das Ende des 2. Weltkrieges und das Ende des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland zum 79. Mal. Mehr als ein dreiviertel Jahrhundert ist es her, dass der – auf die Opferzahlen und die involvierten Länder und Regionen der Erde geblickt – grausamste Krieg und eine bis dahin und selbst heute unvorstellbare Vernichtungsmaschinerie gegen Menschen zu Ende ging.

Auf dem Weg zu diesem Ende lag die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, des Lagers, das zum Inbegriff des Holocausts geworden ist.

Das systematische Vorgehen des nationalsozialistischen Regimes mit dem Ziel der vollständigen Vernichtung des jüdischen Volkes wurde nochmals deutlich, als in den vergangenen Tagen auf scheinbare Parallelen zwischen dem Geheimtreffen in einer Hotelvilla am See in Potsdam und der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 hingewiesen wurde.

Die politische Entscheidung zur sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ war damals längst gefallen und es ging nun um die Organisation im Detail und die Koordination der Zusammenarbeit der beteiligten Instanzen, der Ministerien und Ämter und der SS im Staatsapparat.

Detailliert ist den Protokollen zu entnehmen, wie viele Juden aus insgesamt 30 Ländern und Gebieten in ganz Europa vernichtet werden sollten, insgesamt 11 Millionen Menschen.

Nach Auschwitz-Birkenau wurden die europaweit gefangengenommenen Menschen, zu allermeist Juden, per Bahn transportiert. Die Herkunftsländer waren u.a. Deutschland, Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Jugoslawien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Polen, Rumänien, die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und Ungarn.

Die Zahl der Todesopfer in diesem Lager beläuft sich auf ca. 1,1 Millionen Menschen, ca. ein Fünftel der insgesamt 5,6 Millionen ermordeten Juden.

Unter den in Auschwitz Ermordeten waren auch ca. 160.000 nichtjüdische Opfer, vorwiegend Sinti und Roma, Polen und Homosexuelle. 900.000 Menschen wurden unmittelbar nach der Ankunft in Gaskammern ermordet, weitere 200.000 starben durch Krankheit, Unterernährung, Misshandlung, medizinische Versuche oder Zwangsarbeit.

Zwischen dem 17. und 23. Januar 1945 wurden von der SS noch etwa 60.000 Häftlinge „evakuiert“, d.h. zum Teil erschossen und größtenteils in Todesmärschen nach Westen getrieben. Dann am 27. Januar 1945 wurden die im Lager verbliebenen Häftlinge durch sowjetische Truppen der 322. Infanteriedivision der I. Ukrainischen Front befreit. Von den noch angetroffenen etwa 7.000 überlebenden Häftlingen verstarben – trotz medizinischer Hilfe – in den folgenden Tagen viele.

Wenn wir heute zusammenkommen, so ist keiner unter uns, der die Diktatur des Nationalsozialismus selbst erfahren hat und gar Opfer dieses Regimes war. Knapp 80 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges schließt sich die Möglichkeit, dass uns Überlebende von ihren Erfahrungen unmittelbar berichten können.

Doch wird es dabei bleiben, dass überlieferte Einzelschicksale das geschehene Leid uns zugänglich und nachvollziehbar, vielleicht auch begreifbar machen. Die persönliche Betroffenheit kann uns stark machen gegen die Gefahr einer Wiederholung dessen, was damals geschehen ist, und gegen neue, heutige Formen der Unmenschlichkeit.

Ca. 700 Opfer der nationalsozialistischen Diktatur sind in Jena zu beklagen: Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Andersdenkende, Homosexuelle, Zwangsarbeiter und andere. Das Jenaer Gedenk- und Totenbuch auf den Internetseiten der Stadt ist ein virtuelles Denkmal für die lokale Geschichte der Opfergruppen, das vor allem der Aufarbeitung dient.

Doch die Menschen in Jena wie andernorts brauchen reale Orte für das Innehalten und Gedenken und sie haben sich mehrere dieser Orte geschaffen. Das Mahnmal hier auf dem Heinrichsberg wurde 1948 errichtet und war eines der ersten in Thüringen.

Die Information und das Gedenken an den Todesmarsch durch Jena ist in den vergangenen Jahren wieder sehr in den Vordergrund gerückt durch die Stele an der Camsdorfer Brücke, die Neugestaltung des Grabes der ermordeten Häftlinge auf dem Ostfriedhof und die neue Stele zu Robert Büchler, den Überlebenden, nahe des Angergymnasiums.

Seit 2007 werden auch in unserer Stadt Stolpersteine verlegt, mittlerweile weit über 50 an der Zahl, die besonders deutlich machen, dass die Opfer Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt und möglicherweise Nachbarn unserer Vorfahren waren. Nach dem „Klang der Stolpersteine“ trifft man sich alljährlich am 9. November am Westbahnhof, wo seit 1988 die Gedenktafel an die von dort deportierten Juden, Sinti und Roma erinnert.

Es gibt die Gedenkstele in der Löbstedter Straße zur Erinnerung an dort internierte Juden und das Jenaer KZ Außenlager und in den Rathaus-Arkaden die Tafel, die an die 60 Jenaer Opfer von Medizinverbrechen in Pirna-Sonnenstein erinnert.

Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Gut, dass es diese Orte gibt. Sie sind Ausdruck der innerstädtischen Aufarbeitungs- und Gedenkkultur als auch der tiefen Verstrickung der Stadt und ihrer Menschen in die Verbrechen der Nationalsozialisten.

Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus muss immer auch die Frage einschließen, wie es zu den mörderischen Taten kam und wer hierfür die Verantwortung trägt. Zu Opfern gehören immer auch Täter. Zu Jenaer Opfern gehören Jenaer Täter. Die Täter waren nicht schlicht „die SS“, „die Lageraufseher“, „die Nationalsozialisten“, „die Wehrmacht“.

Die Täter in Jena waren oft – wie auch die Opfer – Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt, möglicherweise Nachbarn der Opfer, Nachbarn unserer Vorfahren oder gar unsere Vorfahren selbst.

Die Täter arbeiteten in der Stadtverwaltung, in städtischen und privaten Unternehmen, in der Universität, in Krankenhäusern, in Organisationen und Vereinen. Die Täter in den Amtsstuben, die Angestellten auch der Kommunalverwaltung machten den industrialisierten Mord möglich.

So wie auf der Wannseekonferenz an oberster Spitze organisiert wurde, so wurde bis zur untersten Ebene willfährig umgesetzt. Auch in Bezug auf die Verwaltung in Jena gibt es noch viele unbeantwortete Fragen; die Aufarbeitung ist nicht abgeschlossen.

Es braucht wohl mehr denn je unser Engagement, unser demokratisches Gesellschaftssystem, unsere bürgerlichen und humanistischen Werte zu sichern. Wir sind heute keine durchorganisierte Diktatur, sondern eine liberale und auch stabile Demokratie. Doch die Nationalsozialisten haben sich auch vor 100 Jahren am Rande der Gesellschaft gesammelt und sind dann in die Mitte vorgedrungen. Das darf sich heute nicht wiederholen.

Die Parallelen, die von breiten Schichten der Bevölkerung in den beiden Treffen, der Wannseekonferenz und dem Treffen im vergangenen November, gesehen werden, sind nicht zu unterschätzen.

Damals wie auch jetzt ging es um eine völkische Vision einer reinen weißen Gesellschaft. Damals wurde die massenhafte Ermordung durchorganisiert, jetzt wurde über die massenweise Deportation unliebsamer Bevölkerungsgruppen gesprochen.

Die Ereignisse und Verbrechen des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges dürfen wir nicht vergessen. Es braucht unsere Anstrengung und unser Bewusstsein, dass wir mit unserem täglichen Handeln für Menschenrechte und Menschenwürde eintreten. Sie sind die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Menschheit. Lassen Sie uns hier gemeinsam handeln!

Rede am Denkmal
Oberbürgermeister Dr. Thomas Nitzsche
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