Reden des Jenaer Oberbürgermeisters zum 17. Juni
Es gilt das gesprochene Wort
Reden des Oberbürgermeisters Dr. Thomas Nitzsche zum 17. Juni
Gedenkveranstaltungen zu 70 Jahre Volksaufstand der DDR am 17. Juni in Jena
Rede zur Kranzniederlegung:
Sehr geehrte Damen und Herren,
heute vor 70 Jahren, es war ein Mittwoch, streikten ab 8.00 Uhr ca. 3.000 Arbeiter im Südwerk bei Carl-Zeiss-Jena. Seit 9.00 Uhr wurde auf dem Holzmarkt demonstriert und das Gebäude der SED-Kreisleitungen von Jena-Stadt und Jena-Land gestürmt und verwüstet. Gegen 14.00 Uhr war die Zahl der Demonstranten zwischen Holzmarkt und Stadtkirche auf bis zu 25.000 Menschen angeschwollen. Sie forderten freie wahlen, das Ende der politischen Repressionen, Freilassung der Inhaftierten und bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen.
Der aufgestaute Zorn offenbarte sich in zerstörten Parteibüros, in Sprechchören und in Gewalt gegen Uniformierte, Staatstreue und Funktionäre.
Am Nachmittag griff auch in Jena die Staatsmacht mit Unterstützung sowjetischer Panzer und Mannschaftswagen durch und der Ausnahmezustand wurde verhängt. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen und Gefängnisstrafen; Alfred Diener wurde am Tage darauf standrechtlich erschossen. Die Proteste setzten sich bei Carl Zeiss auch in den folgenden Wochen fort und kamen erst allmählich durch anhaltende Repression zum Erliegen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
der Freistaat Thüringen hat zu seinem zentralen Gedenkakt anlässlich des 70. Jahrestages des Volksaufstandes 1953 nach Jena geladen, weil Jena einer der Hauptorte des Aufstandes in Thüringen und der DDR war. Das ehrt besonders die Jenaer Opfer des Volksaufstandes sowie all diejenigen, die damals den Mut hatten, gegen die Unterdrückung des SED-Regimes aufzustehen.
Ich begrüße Sie sehr herzlich, Frau Pommer, Präsidentin des Thüringer Landtages, Herr Prof. Hoff, Minister für Kultur-, Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Staatskanzlei, sowie Herrn von der Weiden, Präsident des Thüringer Verfassungsgerichtshofes.
Willkommen heiße ich ebenfalls sehr herzlich meinen Kollegen Dr. Janik, Oberbürgermeister unserer Partnerstadt Erlangen, Herrn Prof. Ganzenmüller, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg, und Herrn Dr. Wurschi, Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Liebe Zeitzeugen der Ereignisse 1953, liebe Angehörige, sehr geehrte Abgeordnete in Bund und Land, liebe Stadträtinnen und Stadträte, liebe Schülerinnen und Schüler des Otto-Schott-Gymnasiums, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Vereine und Verbände, der Kirchen, der Medien, sehr geehrte Damen und Herren, seien Sie alle ganz herzlich willkommen.
Wir sind heute hier zusammengekommen am „Denkmal zum Gedenken an die politisch Verfolgten in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR zwischen 1945 und 1989“ und ich freue mich, dass auch Sie, Sibylle Mania und Martin Neubert, als Künstler heute hier anwesend sind.
Der 17. Juni 1953 war ein Höhepunkt des Widerstandes in der DDR gegen die Unterdrückung der SED-Diktatur, doch es sollte noch 36 Jahre, ein halbes Menschenleben dauern, bis das Regime mit der friedlichen Revolution 1989 zu Fall gebracht werden konnte.
Es brauchte den Widerstand über Jahrzehnte, es brauchte mutige Frauen und Männer, die ohne Rücksicht auf ihr persönliches Wohlergehen eintraten für Meinungs- und Versammlungsfreiheit, für Freiheit und freie wahlen. Dieses Denkmal steht zum Gedenken an die Mutigen von 1953 wie auch für die, die davor und danach beständig für ihre Rechte, für Demokratie und Freiheit eintraten, bis das Ziel erreicht war.
Der Gedenktag gibt uns auch Anlass, über unsere Freiheiten heute nachzudenken, sie wertzuschätzen und für sie einzutreten. So verstehe ich Ihre Teilnahme heute hier als ehrendes Gedenken an die mutigen Streiter vor 70 Jahren als auch ein Eintreten für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat heute.
Vielen Dank, dass Sie hier sind!
Rede zum Gedenkakt im Historischen Rathaus
Sehr geehrte Frau Pommer,
sehr geehrter Herr Prof. Hoff,
lieber Florian Janik,
herzlich willkommen auch hier im Historischen Rathaus!
An dieser Stelle möchte ich besonders herzlich begrüßen Hans-Joachim Preuß, Zeitzeuge des 17. Juni 1953 in Jena und heute in unserer Partnerstadt Erlangen lebend, sowie die Schülerinnen und Schüler des Otto-Schott-Gymnasiums. Wir werden sie später im Zeitzeugengespräch erleben, darauf bin ich sehr gespannt!
Auch das Gedenken an den Volksaufstand am 17. Juni 1953 stellt uns zunehmend vor die Herausforderung, wie die Erinnerung an die Ereignisse vor 70 Jahren im Bewusstsein der Menschen bewahrt werden können. Die Zeitzeugen von damals werden weniger und somit schwinden die Gelegenheiten zum unmittelbaren und persönlichen Austausch. Das individuelle Erinnern wandelt sich allmählich in ein gesellschaftlich-kulturelles Erinnern und hier stellt sich die Frage, was das beinhaltet.
Daher begrüße ich es sehr, dass Ihr – wenn ich Euch noch Duzen darf –den direkten Austausch mit einem Zeitzeugen von damals sucht. Das persönliche Berührtsein macht etwas mit uns, um sich soweit wie möglich in die Zeit von damals hineinzuversetzen und zu verstehen, was damals passierte und wofür und warum Menschen damals auf die Straße gingen.
Heute Morgen enthüllten wir, Frau Pommer, Herr Dr. Wurschi und Schülerinnen und Schüler das neue Informationsschild zu Alfred Diener in der Alfred-Diener-Straße in Neu-Lobeda, eine Initiative der Schüler. Großartig, ein tolles Ergebnis der inhaltlichen Arbeit!
Alfred Diener wurde 1953 gemeinsam mit Walter Scheler verhaftet. Walter Scheler, nach der friedlichen Revolution 1989 Ehrenbürger der Stadt, wurde nicht erschossen. Er wurde „nur“ zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Drei Jahre saß er in Einzelhaft, nach weiteren fünf Jahren wurde er begnadigt. Walter Scheler, 1923 geboren, überlebte Krieg und Kriegsgefangenschaft und war bei seiner Heimkehr 1946 gerade 23 Jahre alt. Vermutlich wünschte er sich sehr, eine bessere Welt aufzubauen.
Er trat in die SPD und bald in die SED ein, er wurde Volkspolizist. Doch die Zweistaatengründung entfremdete ihn vom politischen System. Dazu muss man wissen, dass er aus dem Grenzgebiet nahe Sonneberg stammte und später mit der „Aktion Ungeziefer“ nach Jena zwangsumgesiedelt wurde.
Ein geplantes Studium blieb ihm verwehrt, weil er 1949 aus der SED wieder ausgetreten war. Daraufhin quittierte er den Polizeidienst. Nach seiner Haftentlassung 1961 schlug er sich als Lagerist und Arbeitsschutzbeauftragter für HO-Gaststätten durch. Dann, ab 1990 setzte er sich für die Erinnerung an den 17. Juni 1953 und die Opfer in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR ein. 1993 wurde er von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitiert.
Warum erzähle ich das? Weil Walter Scheler einer wie viele von uns war: Er war jung, er hatte Ideale, für die er sich einsetzte. Aber er hatte auch einen guten Kompass, um zu merken, wo Ungerechtigkeit und Unfreiheit beginnen und wann es das Gewissen fordert, dagegen einzutreten, auch auf Kosten des eigenen Wohlergehens.
Hierin kann er uns Vorbild sein, nicht nur Schülerinnen und Schülern, sondern uns allen.