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Gedenken an Enver Şimşek und die Opfer des NSU

11.09.2024
Menschen versammeln sich am Enver-Şimşek-Platz, Oberbürgermeister Dr. Thomas Nitzsche hält eine Rede
Zum Gedenken an Enver Şimşek und die Opfer des NSU versammelten sich in Jena Winzerla ca. 60 Menschen.

Anlässlich des Gedenkens an Enver Şimşek und die Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds fand am 11.9.2024 am Enver-Şimşek-Platz in Jena Winzerla eine Gedenkveranstaltung statt, an der etwa 60 Personen, darunter auch Schülerinnen und Schüler, teilgenommen haben.

Die Rede des Oberbürgermeister finden Sie anbei (es gilt das gesprochene Wort):

"Vor 11 Tagen fand in Thüringen die Landtagswahl statt. Das befürchtete und leider auch erwartete Ergebnis ist eingetreten. Die AfD ist nicht nur stärkste Fraktion geworden, sondern Sie hat es auch geschafft, mehr als ein Drittel der Mandate und damit die Sperrminorität zu erringen. Wie das Land Thüringen in den nächsten fünf Jahren regiert werden kann, kann noch niemand vorhersagen.

Es steht zu befürchten, dass es ähnlich kompliziert wird wie in den vergangenen fünf Jahren, nun jedoch mit noch stärkerem Einfluss der AfD bei allen Entscheidungen, die eine Mehrheit von zwei Dritteln des Landtags erfordern.

Björn Höcke forderte 2017 auf einer Veranstaltung der AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“ „eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Er bezog sich dabei auf das Berliner Holocaust-Mahnmal und warf den Deutschen vor, „sich ein Denkmal der Schande in das Herzen seiner Hauptstadt gepflanzt“ zu haben.

Die Verharmlosung der Verbrechen der NS-Diktatur bis hin zum Geschichtsrevisionismus, der politisch motivierten Umdeutung der Geschichte, seitens AfD-Funktionären gehört zum Alltagsprogramm der Partei. Ich denke, ich liege mit der Vermutung richtig, dass es dieses Gedenken hier an diesem Ort in dieser Stadt nicht mehr geben würde, hätte die AfD hier das Sagen.

Angesichts des Thüringer Wahlergebnisses stellt sich mehr denn je die Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Welche Werte geben uns Orientierung für unser Handeln? Was motiviert uns? Wohin wollen wir uns entwickeln?

Wir – das sind auch rund ein Drittel der Thüringer, die die als rechtsextremistisch eingestufte AfD gewählt haben, immerhin auch 16,2 Prozent in Jena.

Was bewegt sie, eine als rechtsextrem eingestufte Partei zu wählen, die programmatisch so gut wie nichts zur Lösung der gegenwärtigen Herausforderungen zu bieten hat außer einer gegen Migranten gerichteten Politik? Was treibt sie, einem Mann ihre Stimme zu geben, der offen Konzepte der Neuen Rechten vertritt, der ein Bündnis ultranationalistischer Gruppen anstrebt mit dem Ziel der ethnischen Homogenisierung Deutschlands und Europas?

An dieser Stelle soll es nicht darum gehen, dass dieses Land bzgl. der Migrations- und Integrationspolitik enorme Probleme hat, auf die die Bundespolitik allmählich reagiert. Es geht auch nicht darum, das Asylrecht des Einzelnen als solches in Frage zu stellen, dass Deutschland in Europäische Verträge eingebunden ist, die es einzuhalten und deren Umsetzung es einzufordern hat.

Es geht mir vielmehr darum, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen als eine Gesellschaft, die seit vielen Jahrzehnten durch Migration geprägt wurde und erhebliche, insbesondere wirtschaftliche Vorteile aus der Zuwanderung von Menschen gezogen hat.

Deswegen überrascht es auch nicht, dass in den aktuellen Debatten um den Fachkräftemangel immer wieder die Zuwanderung von Menschen als einer der wesentlichen Lösungswege angesehen wird.

Es geht mir darum, welche Werte wir für unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben in den Vordergrund stellen wollen. Mir geht es hierbei vor allem zunächst um die Würde eines jeden einzelnen Menschen.

Erst vor wenigen Tagen ist das breit angelegte Ausstellungsprojekt „Würdemenschen“ des Berliner Künstlers Jörg Amonat, das anlässlich des 75. Jubiläums des Grundgesetzes entstand und an vielen Orten hier in Jena gezeigt wurde, zu Ende gegangen.

Die dabei zusammengetragenen Blickwinkel auf die Würde des Menschen sind so vielfältig wie unsere Gesellschaft. Gemeinsam ist ihnen, dass die Würde des Menschen, wie im Grundgesetz geschrieben, unantastbar sein soll.

Die Würde des Menschen jedoch ist verletzbar. Wollen wir das? Nein, das wollen wir nicht. Deshalb streiten wir, die wir hier versammelt sind, für unsere plurale, weltoffene und demokratische Gesellschaft, für ein weltoffenes Thüringen.

Dafür werde ich mich, dafür werden wir uns weiterhin gemeinsam einsetzen, auch und gerade angesichts des Thüringer Wahlergebnisses vom vorletzten Sonntag.

Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auch in diesem Jahr hier zusammengekommen sind, um der Opfer des Nationalsozialistischen Untergrundes, des NSU, zu gedenken.

Die Erinnerung an die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Geschehnisse, wie es zu den Mordtaten kommen konnte und warum die anschließende Aufklärung und Verfolgung der Täter so fehlerbehaftet war, droht in den Hintergrund zu rücken.

Dabei ist die Aufarbeitung wichtig, um auch in diesen schwierigen Zeiten einen klaren Blick auf Entwicklungen und Verhältnisse in unserem Land zu gewinnen bzw. zu behalten.

Der hiesige Platz ist nach Enver-Şimşek-Platz benannt, nach dem Menschen, der als erstes Opfer der NSU-Mörder sterben musste. Denn ein Name, ein konkreter Mensch, ein persönliches Schicksal lassen uns besser verstehen und mitfühlen, was damals passierte. Enver Şimşek wurde am 11. September 2000, heute vor 24 Jahren, in Nürnberg ermordet.

Die hiesige Gedenktafel und die Platzbenennung stehen jedoch für alle zehn ermordeten Menschen, neun mit migrantischem Hintergrund und die Polizistin Michele Kiesewetter.

Wenn wir wie heute hier zusammen kommen, gedenken wir allen Opfern des NSU. Nach Enver Şimşek wurden weiter gemordet.

  • in 2001 mussten Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü und Habil Kılıҫ sterben,
  • in 2004, vor 20 Jahren, wurde Mehmet Turgut durch drei Schüsse der NSU-Mörder getötet.

Er war noch keine 25 Jahre alt, kurdischer Abstammung und wenige Wochen vor seinem Tod nach Rostock gezogen. Hier arbeitete er in einem Döner-Imbiss in Rostock-Toitenwinkel, dort wurde er auch ermordet.

Die Kommission, die in den folgenden Monaten zum Mord ermittelte, verkündete bereits eine Woche nach dem Mord in einer Pressemitteilung: „Ein ausländerfeindlicher Hintergrund kann derzeit ausgeschlossen werden“. Der Betreiber des Imbisses berichtete später, dass er von den Ermittlern wie ein Verdächtiger behandelt worden sei. Erst nach der Selbstenttarnung des NSU mussten die Behörden das rassistische Motiv des Mordes einräumen.

Diese Gedenktafel ist auch zu Ehren von

  • İsmail Yaşar und Theodoros Boulgarides, ermordet in 2005 und
  • Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, ermordet in 2006.
  • Ein Jahr später, am 25. April 2007 wurde die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen.

Sie alle hatten sich nichts zuschulden kommen lassen. Sie, ich spreche jetzt über die migrantischen Opfer, waren vor Jahren nach Deutschland eingewandert, waren hierher migriert, um sich ein besseres Leben aufzubauen. Die meisten von ihnen waren selbstständig, mit all den besonderen Herausforderungen, die das mit sich bringt. Viele hatten bereits Familien gegründet, sie hatten Kinder. Mütter und Väter verloren ihre Söhne, Ehefrauen ihre Männer, Kinder ihre Väter.

Als ob das nicht schon schrecklich genug wäre, so mussten die Hinterbliebenen sich Verdächtigungen erwehren, die Morde seien durch Verwicklungen in der organisierten Kriminalität, im Rotlichtmilieu oder im Drogenhandel begründet.

Diese Unterstellungen kamen sehr oft von staatlicher Seite, während Hinweise, dass die Taten einen ausländerfeindlichen, rechtsextremen Hintergrund haben könnten, nicht ernsthaft oder gar nicht verfolgt wurden.

Das Leid, dass den Familien zugefügt wurde, lässt sich kaum wirklich nachvollziehen.

Umso wichtiger ist, dass wir als Gesellschaft diese Fehlleistung aufarbeiten, selbstkritisch bewerten und um Verzeihung bitten.

Vor sechs Jahren endeten die Strafverfahren gegen die noch lebenden Täter mit Schuldsprüchen und teils langen Haftstrafen. Es ist wichtig, an das Geschehene auch danach weiter zu erinnern, an die Opfer, an das Leid, das den Angehörigen zugefügt wurde, auch durch die Art und Weise des Umgangs mit den Morden seitens staatlicher Behörden.

Viel zu lange verfolgten Sie nicht ernsthaft genug die Möglichkeit eines rechtsextremen Hintergrundes für die Ermordung der zehn Menschen, wie es notwendig gewesen wäre und teilweise naheliegend war.

Wir müssen die Ereignisse von damals, die Morde wie das anschließende Versagen bei der Aufklärung sowie die Aufarbeitung der Taten heute und in Zukunft im Blick und in unseren Gedanken bewahren, damit sich das, was passierte, nicht wiederholt.

Ich will nicht darüber spekulieren, wie Regierungen, Verwaltungen, Behörden und Gerichte, die von Rechtspopulisten durchdrungen sind, mit Vorfällen wie geschildert umgehen würden. Die gegen Migranten ins Feld geführte Rhetorik lässt jedoch sehr ernsthaft befürchten, dass in Bezug auf die Würde des einzelnen Menschen mit zweierlei Maß gemessen werden würde.

Schon das Behördenversagen nach den Morden in den ersten 10 Jahren dieses Jahrhunderts legt nahe, dass viele Akteure des Rechtsstaats hier auf dem rechten Auge blind waren. Warum handelten Sie so?

Um aus der Vergangenheit zu lernen und ein Wiederholen der schrecklichen Ereignisse zu verhindern, müssen auch wir in Jena uns weiter mit der Frage auseinandersetzen, wie es dazu kommen konnte, dass der Nationalsozialistische Untergrund hier entstand.

Das Erinnern an die Opfer kann auf vielfältige Weise geschehen und ist wichtig, um einen wachen Blick für Gegenwart und Zukunft zu Bewahren.

Das NSU-Gedenkjahr 2021 war ein wichtiger Auftakt. In Jena muss weiter an der wissenschaftlichen Aufarbeitung und der Vermittlung der Historie des NSU und seiner Opfer gearbeitet werden. Wir müssen die Geschichte von Enver Şimşek und der anderen Opfern des NSU weiter erzählen und jungen wie älteren Menschen dadurch zeigen, wohin extreme und menschenverachtende Ideologien führen.

Mit diesem Ziel wurde das Rosenthal-Stipendium für Bildende Kunst zu einem Stipendium für politische Bildung umgewidmet und wird zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeit und des Umfelds genutzt, in dem der NSU in Jena entstehen konnte. Die Ergebnisse dieser Arbeit werden in ein Vermittlungskonzept übersetzt werden, mit dem an den schulen Jenas gearbeitet werden kann.

Unser Augenmerk vor Ort muss weiterhin darauf liegen, dass wir einem Klima der Fremdenfeindlichkeit klar entgegen treten. Wir als städtische Gesellschaft müssen daran arbeiten, die Gesamtatmosphäre für Menschen mit migrantischem Hintergrund im Alltag weiter zu verbessern.

Oft sind es kleine Projekte und Zeichen der Mitmenschlichkeit und der Zivilcourage, die deutlich machen, dass Menschen mit Migrationshintergrund zu uns gehören und dass wir diesen gesellschaftlichen Konsens uns nicht kaputt machen lassen.

Dazu zählt auch, dass wir als Stadt sichtbare Zeichen setzen, dass wir ein Klima der Angst, der Einschüchterung und der Gewalt in unserer Stadt nicht dulden.

Damit meine ich öffentlich wahrnehmbare Zeichen wie unser Engagement im Bündnis „Weltoffenes Thüringen“ genauso wie nicht-öffentliche Begegnungen und Gespräche mit den Betroffenen, mit den Opfern, damit sie wissen, dass sie nicht allein sind und an wen sie sich bei Bedarf wenden können.

Wir alle müssen gegen diese wie auch gegen alle anderen rechtsextremen und menschenfeindlichen Taten eintreten!

Die Namensgebung in Enver-Şimşek-Platz hier an dieser Stelle vor vier Jahren war ein wichtiges und wahrgenommenes Zeichen, das von Dauer ist. Die weitere ehrliche inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Themenfeld NSU ist ein Weg, auf dem hoffentlich offene Wunden aus der Vergangenheit heilen können und mit dem für eine hohe Wachsamkeit in der Gegenwart sensibilisiert wird.

Die Erinnerung wollen wir im städtischen Bewusstsein bewahren und die eigene Verantwortung in der Aufarbeitung annehmen.

Angesichts des Drucks auf unsere Gesellschaft ist es zentral, dass die demokratische Verfasstheit unseres Landes, dass Menschen- und Bürgerrechte, die Würde jedes einzelnen Menschen gewahrt bleiben.

Wir wollen, dass Menschen mit migrantischer Herkunft sich in Jena sicher fühlen, dass sie sich wohl fühlen und ein Zuhause finden, auch wenn es nur ein Zuhause auf Zeit sein sollte.

Das gilt gleichermaßen für Menschen, die schon lange bei uns leben, die aus familiären oder beruflichen Gründen nach Jena gekommen sind oder die Asyl erhalten oder beantragt haben. Gleiches gilt für die Geflüchteten zum Beispiel aus der Ukraine.

Ich bin froh, dass das Ringen um unser menschliches Miteinander von der Breite der Jenaer Stadtgesellschaft getragen wird. Das Engagement der Bürgerinitiativen ist hierbei ganz wesentlich, denn nicht zuletzt sie haben entscheidend dazu beigetragen, dass der Prozess unserer stadtinternen Auseinandersetzung vorangebracht wurde. In diesem Sinne werden wir weiter konstruktiv zusammenarbeiten.

Lassen Sie uns nun im Gedenken an Enver Şimşek und an alle anderen Opfer des NSU einen Kranz niederlegen.

 

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