Corona-Gespräch von Wolfgang Frindte und Jonas Zipf
Noch bevor im Februar des vergangenen Jahres Thomas Kemmerich kurzzeitig zum Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen gewählt wurde und im März die bis heute fortdauernde Pandemie weltweit einschlug, besorgte sich JenaKultur-Werkleiter Jonas Zipf „Halt in haltlosen Zeiten“, das jüngste Buch des Jenaer Sozialpsychologen Wolfgang und seiner Frau Ina Frindte. Im Laufe des Jahres hat es ihn gedanklich begleitet, als ob es für die Krise und ihre Phänomene geschrieben worden wäre.
Am Ende des Jahres, kurz vor weihnachten spitzen sich viele Fragen erneut zu, und Jonas Zipf greift endlich zum Telefonhörer und beginnt den direkten Dialog mit Wolfgang Frindte: Ein Gespräch über das Halten und die Haltung, über Filterblasen, Mittagstische und den Versuch, auch im kleinsten Kreis der eigenen Familie die Nerven zu behalten.
JONAS ZIPF: Hallo Wolfgang?
WOLFGANG FRINDTE: Hallo Jonas.
JONAS ZIPF: Da bist Du ja. Schön, dass es klappt und wir uns eine Stunde Zeit nehmen können.
WOLFGANG FRINDTE: Ja, ich bin gespannt.
JONAS ZIPF: Ich auch. Ich denke, wir müssen keinen Hehl daraus machen, dass wir uns duzen. In Ordnung?
WOLFGANG FRINDTE: Nein. Das ist in Ordnung.
JONAS ZIPF: Das Tonband läuft bereits. Ich würde Dich erst mal in die Gesprächssituation reinholen.
WOLFGANG FRINDTE: Ok.
JONAS ZIPF: Wie Du weißt, existiert ja bereits eine Gesprächsreihe, die im Frühjahr letzten Jahres begonnen hat, u.a. habe ich damals mit Hartmut Rosa, mit Thomas Oberender, Volkhard Knigge, Bernhard Maaz, Stephan Lessenich und Aleida Assmann gesprochen. Am Ende ist daraus sogar ein Buch geworden, „Inne halten. Chronik einer Krise. Jenaer Corona-Gespräche“. Je nachdem, mit welchem/r Gesprächspartner*in ich zusammen war, habe ich spezifische Themenblöcke und -bereiche herausgegriffen, gemein war sicherlich allen Gesprächen, dass wir versucht haben, uns über die Transformations-Themen zu unterhalten, die ja auch vor Corona schon da waren. Diese Gespräche haben mir persönlich geholfen, in dieser totalen Krisensituation ein bisschen Abstand zu erlangen. Sie haben in diesem ganzen Stress des Krisenmanagements kleine Inseln gebildet. Mit Dir möchte ich diese Gesprächsreihe fortsetzen, wenn auch die Gesprächssituation eine ganz andere ist. Sie ist nicht mehr so offen wie im Frühjahr.
WOLFGANG FRINDTE: Das stimmt. Da hat sich etwas verändert.
JONAS ZIPF: Ja. Darum möchte ich mit Dir über sozialpsychologische Fragen sprechen. Sozusagen über die sozialen und psychischen Auswirkungen dieser anhaltenden Pandemie. Aber ich muss Dich vorwarnen: Als abgebrochener Psychologie-Student kann ich da keineswegs auf Augenhöhe mit Dir diskutieren…
WOLFGANG FRINDTE: Das macht nichts. Lass uns einfach gemeinsam laut nachdenken.
JONAS ZIPF: Ausgangspunkt ist für mich Euer Buch „Halt in haltlosen Zeiten“. Deine Frau und Du, Ihr habt es noch geschrieben, bevor Corona losgegangen ist, aber eingedenk einer bereits sehr komplexen und unübersichtlichen Gesamtsituation. Was mich dabei angefixt hat, ist Eure Fragestellung, wie wir uns als Individuen grundsätzlich Sicherheit verschaffen. Nun stecken wir mitten in einer lange anhaltenden Extremsituation. Was macht das mit unseren psychischen Abwehrkräften? Welche Auswirkungen hat die Krise auf unser Mikrosystem?
WOLFGANG FRINDTE: Es fängt ja eigentlich schon damit an, dass man sich fragen muss, womit hat es ein Jeder, eine Jede, denn momentan überhaupt zu tun. Stimmt die Metapher der Krise als Chance? Ist das eher eine Krise oder ein Risiko oder eine Katastrophe? Das liegt, glaube ich, immer im Blickwinkel des Beobachters bzw. der Betroffenen, die das wahrscheinlich ganz unterschiedlich sehen. Für uns, also für meine Frau und mich, beschreibe ich das so: In unserem Alter ist es auf jeden Fall ein Risiko, weil wir zu den altersbedingten Risikogruppen gehören. Für Andere ist es eine Krise, solange noch nicht ganz klar ist, wie wir diese Krise bewältigen. Schon in der ersten Welle konnte man dagegen in den Feuilletons lesen, dass diese Krise tatsächlich etwas ganz Positives sein kann, dass man sie also positiv bewältigen kann. Da kamen reflexartig küchenpsychologische Überlegungen dazu: Beispielsweise die Annahme, aus einer Krise käme man immer gestärkt heraus. Das ist natürlich großer Unsinn. So eine Situation hat immer mit Bifurkation zu tun. Das Virus kann zwar tatsächlich eine Chance sein, etwa im Sinne eines positiven Wachstums. Sie kann aber auch Zerstörung bedeuten: Für wieder andere ist diese Situation einfach eine Katastrophe. Ich denke da natürlich an diejenigen, die Dich auch kümmern, also die Soloselbstständigen, die Kunstschaffenden, die momentan keine Chance haben, sich darzustellen und natürlich vor allen Dingen damit auch kein Geld verdienen können. Für die ist es schlicht und ergreifend eine Katastrophe. Und natürlich auch für diejenigen, die erkranken, oder für deren Verwandte und Bekannte kann die Pandemie zu einer Katastrophe werden. Es kommt auch immer wieder darauf an, wie wir es framen, also in welche Szene wir diese gegenwärtige Situation setzen. Ich gehöre nicht zu den 30 bis 59-Jährigen – das ging ja nun gerade in diesen Tagen durch die Medien –, die das Allensbacher Meinungsforschungsinstitut befragt und dabei festgestellt hat, dass für diese Gruppe durch Corona ein andauernder Ausnahmezustand entstanden ist, der eine gewaltige Belastung – wirtschaftlich, persönlich, aber auch psychisch – darstellt. Also kann man sagen: Es trifft eben nicht jeden und jede gleichermaßen, und auch nicht jede und jeder findet in dieser ganz gravierenden Situation noch Halt. Viele suchen jetzt Halt. Den finde ich persönlich vor allen Dingen auch bei mir selbst, also sozusagen in meinen selbstreferentiellen Schleifen. Eli Pariser hat darüber ein Buch geschrieben und den Begriff der Filterblase in die Feuilletons gebracht. Danach bewege ich mich als Individuum in meinen ganz eigenen, individuellen Filterblasen, in meinen eigenen Gedanken, in meinen eigenen Gefühlen, die sich immer wieder um sich selber drehen. Zur gleichen Zeit befinden wir uns dabei auch noch in weiteren Filterblasen, etwa bezogen auf unsere sozialen Bezugsgruppen. Es gibt in der Sozialpsychologie eine ganze Reihe wunderbare Befunde, die darauf hindeuten, dass wir uns gern einem Gruppendenken unterordnen. Gruppendenken, oder Groupthink, ist ein Begriff, der in der Sozialpsychologie auch schon einen langen Bart hat.
10 Jahre nach der Kuba-Krise von 1962, also 1972, hat der Sozialpsychologe Irving Janis ein Buch über 12 Tage aus diesem Jahr 1962 geschrieben. 12 Tage, in denen die Welt sozusagen am Rande eines 3. Weltkrieges stand. Der Stab um Kennedy hat alles Mögliche erwogen. Einige Generäle wollten tatsächlich mit Atomwaffen die Welt verändern. Der Sozialpsychologe hat in seiner Analyse festgestellt, dass sich dieses Team um Kennedy in einer eigenen Echokammer bewegte. Sie haben all das, was draußen, außerhalb von ihnen, passierte, was auch an Kritik geäußert wurde, nicht zur Kenntnis genommen; sie haben sich selber überschätzt, und da entstand dann tatsächlich dieses Gruppendenken-Phänomen, auch als wissenschaftlicher Gegenstand: Wir bewegen uns ja auch als Privatpersonen sehr oft in unseren eigenen Gruppen, ob wir nun die „Gutmenschen“ sind, uns mit „guten“ Gruppen umgeben oder ob wir „die Bösen“ sind, die sich mit ihren „bösen“ Gruppen umgeben. Werden wir doch mal gänzlich aktuell – jetzt schweife ich ein bisschen ab – das hängt aber nun indirekt vielleicht auch mit der Corona-Pandemie zusammen – also wenn ich an diesen Realitätsverlust des noch amtierenden US-amerikanischen Präsidenten denke, da beschleicht mich das Gefühl, da dreht sich sehr viel um gruppendenkerische Gedankenschlüsse. Ich will damit sagen: Natürlich bieten unsere Gruppen, unsere ganz intimen, auch Familien-, Ehe-, Liebesbeziehungen uns Halt.
Dann haben wir vielleicht noch so eine dritte Ebene, weil ich gerade dieses Stichwort der Filterblase eingeworfen habe. Da gehören natürlich – wenn wir jetzt in die sozialen Medien schauen – auch die jeweiligen technischen Algorithmen dazu: Ich kriege eben als über 60-Jähriger, wenn ich das Internet oder mein Facebook öffne, Warnungen, die auf mein Alter zugeschnitten sind, weil diese Algorithmen irgendwann mein Alter als Maßstab oder Kriterium nutzen. So wird mir dann halt irgendein Treppenlift angeboten… Also, ich will sagen: Das, was ich jetzt gerade geschildert habe, sind sozusagen die etwas abseitigen Haltestricke, Halteleinen, die wir haben. Aber auch die können durchaus positiv interpretiert werden. Ich halte mich fest an meinen weltanschaulichen Essentials, an meinem Glauben, ich halte mich auch fest an meiner Freundesgruppe. Und dann treffen wir uns eben, auch wenn das derzeit vielleicht gar nicht so richtig erlaubt ist. Und wenn ich das trotzdem sagen darf, zu jemanden wie Dir, der ja letztlich Angestellter der Stadt Jena ist: Dann treffen wir uns eben doch sonntags am Abend an der Saale mit etwas Abstand, um unseren Glühwein zu trinken, den wir in all den Jahren zuvor auf dem Marktplatz getrunken haben. Also, da bieten mir meine Freunde und die Gruppen auch Halt in dieser Zeit. Dann kann man natürlich auch an die großen Gemeinschaften denken und deren Ideologien und deren Mythen und deren Glaubenssätze, die natürlich auch Halt bieten können. Aber da wären wir dann schon bei den Corona-Demos und der großen Corona-Politik, auf die wir vielleicht später zu sprechen kommen.
JONAS ZIPF: Damit hast Du ja jetzt schon euer Konzept des Haltens skizziert, was Ihr in Eurem Buch „Halt in haltlosen Zeiten“ auf verschiedene Wirksamkeitskreise übertragt, innerhalb derer man Halt gewinnen kann. Sehr spannend finde ich dabei tatsächlich die In-Bezug-Setzungen, die Begegnungen, die Kontaktpunkte zwischen diesen einzelnen Sphären oder Kreisen. Erhellend vor allem, wenn diese verstopft werden, so wie jetzt in der Pandemie: Im Buch sprecht Ihr ja neben Filterblasen von Echokammern. Und vom sogenannten Confirmation-Bias. Das ist eine Orientierung im System, die selbst wieder Halt bietet, wenn man so möchte, indem man sich mit diesem Modell einen Teil unserer gesellschaftlichen Welt erklärt. Ich möchte in den innersten Kreis dieses Systems tauchen, nämlich in Richtung der Mikrosysteme. Als Ihr das Buch geschrieben habt, da lag dieses irre Jahr ja noch vor uns. Ein Jahr, in dem ja nicht nur Corona stattfindet, sondern auch solche Staatskrisen, wie etwa hier in Thüringen die Ministerpräsidentenwahl oder auch die amerikanische Wahl. Also extreme Eruptionen, extreme Themen – ich will jetzt mal das Wort der Krise anknüpfend an Deine Einordnung der Begrifflichkeit nicht überstrapazieren –, bei denen auch innerliche Bilder entstehen von abgeschlossenen Echokammern, die Realitätsverluste erleiden. Ich musste beispielsweise gerade bei Deinem Bild des Kuba-Stabs unwillkürlich an die MPK-Konferenzen denken: Die Ministerpräsident*innen und die Kanzlerin, die sich einschließen, nachdem die Pressefotos gemacht sind und die Expert*innen gehört wurden, jeder für sich vor seinem Bildschirm: Das ist ja auch eine Kammer für sich.
WOLFGANG FRINDTE: Ganz genau, ein sehr schönes Beispiel.
JONAS ZIPF: So ein Krisenstab muss ja Komplexität reduzieren, um zu Entscheidungen zu kommen. Das liegt quasi in der Grundstruktur dieser Entscheidungsfindung, darin steckt eine gewisse Parallelität zu den Haltepunkten der Filterblasen und Echokammern. Der stärkste Haltepunkt, den Ihr, im Endeffekt ausmacht, der in sich selbst auch eine Echokammer und ein Confirmation-Bias sein kann, sind Familie und Partnerschaft. Diese ganze Corona-Situation wirft uns im extremen Maße darauf zurück. Auch wenn wir beide Glühweintrinken gehen könnten, selbst wenn der Weihnachtsmarkt nicht stattfindet – was ich übrigens gern tun würde mit Dir – dann ist ja das, was jetzt, viele, viele erleben, wirklich eine erhebliche Einengung, das Zurückgeworfen-Sein auf den engsten Kreis – wenn man überhaupt jemanden zu Hause hat und nicht einsam ist –, das Zurückgeworfen-Sein auf das Mikrosystem Familie oder Partnerschaft, also auf das, was eben zu Hause stattfindet. Nicht mehr in so einem extremen Maße wie im Frühjahr mit dem Lockdown, aber immer noch sehr viel extremer als im Vergleich zur Situation vor einem Jahr. Wer hätte da in dieser Intensität von persönlichen Erfahrungen mit Konflikten zwischen Homeoffice und Homeschooling sprechen können?!
Jetzt sind wir kurz vor weihnachten, konkret heute 3 Tage vor Nikolaus, mitten in der Familienzeit des Jahres schlechthin. Und diese Dramaturgie, dieser Rhythmus spielen ja auch in der Betrachtung des Pandemie-Managements gerade eine ganz große Rolle. Noch vor wenigen Wochen lautete der Duktus der Verlautbarungen: „Wir müssen jetzt alle durchhalten, dann können wir für ein paar Tage lockern und ein schönes Weihnachtsfest feiern“. Das klingt nach einer sehr deutschen, protestantischen Arbeitsethik. Nach dem Motto: „Das haben wir uns dann verdient.“ Dabei wissen wir eigentlich jetzt schon, dass nach weihnachten die Infektionszahlen dann zwangsläufig wieder hoch gehen, weil die Leute sich treffen, Familien sich treffen. Dann müssen wir wieder den Gürtel enger schnallen. Fast so, wie es mit dem Wechsel zwischen Essen und Fasten geht. Also, anscheinend spielt der Rhythmus für diese Stabilität im Mikrosystem eine archimedische Rolle, eine ganz, ganz entscheidende für die Architektur dieser Gesellschaft.
Jetzt kommt aber der Punkt, den ich so spannend finde: Es gibt sehr viele Themen, die auch diesen Haltepunkt des innersten Mikrokosmos gerade porös machen. Ich mach es konkret an mir selbst fest: Meine Frau etwa steht dem Impfstoff wegen der schnellen Zulassung sehr skeptisch gegenüber. Für mich steht fest, dass ich persönlich als Teil einer infrastrukturkritischen Berufsgruppe im Sinne der Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens – dazu zähle ich auch uns hier in der Kulturverwaltung – gar nicht aussuchen können sollte, ob ich mich impfen lasse oder nicht. Die Diskussion um die Impffrage findet also einerseits im Makrosystem statt: Wer lässt sich impfen? – Derzeit liegt die Bereitschaft in Meinungsumfragen stabil bei nur ca. 40%. Andererseits reicht sie bis in den kleinsten Kern des Mikrosystems der Familien und Paarbeziehungen hinein. Dabei können sich gerade angesichts der vielen Zeit, die wir nun miteinander verbringen, Risslinien in unseren inneren Mikrokosmen bilden, die wir wahrscheinlich aber gerade als Haltepunkte so sehr benötigen wie selten. Ich finde es in diesem Zusammenhang zwar bemerkenswert, dass der Gesundheitsminister deutlich darauf besteht – das berührt die kritische Diskussion rund um die Grundrechte –, dass keine Impfpflicht entstehen soll, und darauf baut, dass Menschen den Diskurs in absolut demokratischer Weise selbst führen und im Sinne ihrer Bürgerrechte selbst entscheiden. Aber sein Spruch „Bitte diskutieren Sie das Thema an den Mittagstischen“, der mir im Ohr geblieben ist, lässt mich dann schon fragen, wo diese Mittagstische eigentlich gerade stehen? Wo findet denn dieser so wichtige informelle demokratische Diskurs momentan statt? Da, wo die Diskussion auf jeden Fall stattfindet, das ist zu Hause, in der Familie. Das ist eine Beobachtung, dass praktisch solche gesellschaftlichen Diskussionen, wenn sie sonst nur noch virtuell geführt und über Medien vermittelt werden, sich zwangsläufig noch stärker in dieses Mikrosystem reinmorphen, reinbewegen und einen, wie gesagt, ganz basalen archimedischen Haltepunkt damit – ich will nicht sagen, gefährden – zumindest aber: anders und neu befragen. Man könnte die Frage strukturell auch auf die anderen heiklen Themen dieser Tage übertragen, etwa die ganze Bildungsdiskussion. Ich bin mir sicher, dass viele Familien, die ihre Kinder im Homeschooling hatten oder auch jetzt wieder haben, ganz plötzlich die Konflikte in ihrer eigenen Erziehungsarbeit noch einmal ganz anders thematisieren müssen, als sie das tun konnten, als sie die Kinder tagtäglich in die Kita oder in die Schule schickten. Jetzt müssen sie – sozusagen konfrontiert mit den Kindern zu Hause – all diese Konflikte mit dem/r Partner*in rund um die Uhr und im zugespitzten Maße aushalten, also im engsten Raum des Mikrosystems. Das ist eine Zuspitzung, die – um mit Friedrich von Borries zu sprechen – auch ein veritables Kritik-Training darstellen kann. Ich will das ja nicht nur negativ beschreiben. Aber ich sehe eben auch eine starke Gefährdung darin. Ich mache es noch einmal an einem anderen Beispiel fest, bevor ich das Wort endlich wieder an Dich zurückgebe. Ein guter Bekannter ist vor drei Wochen gestorben. In seiner Familie kristallisierten sich zwei Positionen heraus: Eine Seite, die sich beschwert und sagt, wir können die Beerdigung nur mit 30 Gästen machen, weil Frau Merkel uns das verbietet. Die andere Seite, die an die Vernunft appelliert. In dieser Extremsituation verläuft plötzlich ein Riss im Mikrosystem. Beide Seiten können sich letztlich nicht einigen, wie sie trauern wollen – und riskieren damit einen starken Haltepunkt, der zu einer anderen Zeit in dieser Familie sicher nicht in Frage gestanden hätte.
WOLFGANG FRINDTE: Also, wenn ich es erstmal allgemein betrachten darf: Diese Haltekreise, also auf individueller, auf mikrosozialer, auf mesosozialer, makrosozialer, auf globaler Ebene, die sind ja nicht unverbunden, sondern die hängen ja immer miteinander zusammen, wie gesagt, sehr allgemein gesprochen. Und nun schlagen diese Situationen in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie eben durch, als globales Geschehen. Der UNO-Generalsekretär hat mal davon gesprochen, dass sei die größte Krise nach dem zweiten Weltkrieg, weltweit. Das mag so sein. Man kann auch darüber streiten, ob die Bundeskanzlerin recht hat, und ihre Minister, und ihr Kanzleramt etc. – oder darüber, ob wir es tatsächlich nur mit einer Naturkatastrophe zu tun haben oder ob nicht auch mit einer gesellschaftlichen Katastrophe. Bei all diesen Diskussionen schlagen jedenfalls die globalen Geschehnisse so unmittelbar auf individueller und mikrosozialer Ebene durch, wie Du es gerade an Deinen beiden Beispielen gezeigt hast. Ich habe das im Frühjahr selbst auch erlebt, als die Frau meines Lieblingsneffen an Krebs starb. Und wer stand am Grab? Die Eltern und der Witwer, also der Ehemann. Sonst niemand. Wir konnten nicht dazu kommen; darunter leidet mein Neffe nach wie vor: Dass er sich nur allein oder nur im kleinen Kreise von seiner Frau an diesem Tag verabschieden konnte. Und nun kommt noch das nächste Beispiel, das Du auch bringst: Wie diskutieren wir jetzt über gesellschaftliche Geschehnisse und deren mögliche Lösungswege, also zum Beispiel über das Impfen? Auch da schlagen sozusagen diese globalen makrosozialen Dinge bis auf das konkrete individuelle Mikrosoziale durch.
Ich kann ja zunächst mal als Sozialpsychologe sagen, dass dieses gesamte soziale System, ein mikrosoziales genauso wie ein makrosoziales, also als Gesellschaft, in der Regel immer zwischen zwei Polen pulsiert, wieder allgemein gesagt. Ich spreche von Erscheinungen der Kommunikations-verdichtung und der Kommunikationsauslösung. Und momentan erleben wir in diesem kleinen individuellen, aber auch in unseren mikrosozialen Kreisen eine maximale Kommunikations-verdichtung. Wir sind auf uns zurückgeworfen, ganz massiv. Dabei möchten wir uns eigentlich öffnen, das kann man ja auch ganz praktisch, ganz konkret, alltagsnah formulieren. Also, eigentlich möchten wir wieder nach Draußen und bleiben doch sozusagen im Inneren verhaftet. Das ist, glaube ich, ein ausgesprochen großes Maß an Belastung, mit dem wir da umgehen müssen. Das bringt uns in Konflikte, für die keiner mehr Auswege und Lösungen kennt. Ich sehe auf der einen Seite, mit wieviel Pessimismus einige Menschen das Geschehen betrachten oder sie sich, ganz anders als es Immanuel Kant mit seinem Leitspruch „Sapere Aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ meinte, Verschwörungstheologen und Anhängern von Querdenken anschließen. Die reden dann von den Schlafschafen und meinen sozusagen uns, die wir eben keine Anhänger von Verschwörungstheorien sind. Man könnte es sich jetzt einfach machen und im Umkehrschluss den Verschwörungsideologen attestieren, dass sie eben nicht in der Lage sind, analytisch zu denken. Dann taucht aber sofort die zweite Frage auf, die uns in Verzweiflung stürzen muss: Was fangen wir denn mit all unseren analytischen Fähigkeiten an? Bringen die uns eine Lösung? Die ganze Reihe von sozialpsychologischen Befunden der letzten Monate, und da ist ja massiv publiziert worden, also zumindest erstmal in Form von Preprints, bevor sie die Gutachtenschleifen durchlaufen – diese vielfältigen Studien zeigen, dass Menschen, die in der Lage sind, analytisch zu denken, bei aller Skepsis auch ein relativ hohes Vertrauen in die Wissenschaft haben, und bereit sind, für eine gewisse Zeit die Anti-Corona-Maßnahmen, die unsere Regierung und das Parlament beschließen, oder beschlossen haben, zu akzeptieren. Und trotzdem bleibt auch in dieser Gruppe ganz offensichtlich ein hohes Maß an Rest-Irritation übrig. Du hast es ja anhand Deiner Beispiele geschildert. Ich habe in der ersten Welle meinen Enkeln in Göttingen dann immer über WhatsApp Märchen vorgelesen – so in der stillen Hoffnung, sie auch ein bissel abzulenken von irgendwelchen Computerspielen. Das haben sie eigentlich auch weitgehend genossen. Und dann haben wir noch Geschichten ausgesucht oder ich habe selber Geschichten erzählt. Das sind auch weiterhin probate Formen, kleine Formen, um so ein bissel Öffnung und gleichzeitig aber auch einen Halt herzustellen.
JONAS ZIPF: Das ist spannend. Jetzt stoßen wir in unserem Gespräch auf ein offeneres Terrain. Eine Gegend, in der wir die Ratlosigkeit teilen müssen, die Du zum Ausdruck bringst. Weil wir uns als analytische Menschen – so wie wir es gerade auch versuchen, in diesem Diskurs – auf Gedeih und Verderb ausgeliefert fühlen, nahezu abgeschnitten von dem, was Habermas das „Projekt der Moderne“ nennt. Wir wissen zwar, dass wir wahrscheinlich nur mit wissenschaftlichen, rationalen Mitteln durch diese Krise kommen. Auch, was die politische Willensbildung anbelangt sind nur Argumentationen entlang des technischen Fortschritts, insbesondere der Impfstoff am Ende des Tunnels, mehrheitsfähig. Wir haben gar keine Alternativen mehr, es existieren ja schon fast nur noch Sachzwänge. Es gibt auch keine bessere Kanzlerin in den letzten Monaten, symbolisch gesprochen, für so eine Situation, als Angela Merkel. Das ist die finale Zuspitzung ihres erfolgreichen Politik-Stils. Einer Politik, die nicht mehr in großen Alternativen gedacht wird, sondern nur noch quasi in der Sachberatung und im Sachzwang. Das ist das, was, glaube ich, auch diese starke Opposition hervorruft. Für Linksliberale bedeutet diese Verschiebung ein absolutes Ohnmachtsgefühl, weil die Alternativen sich plötzlich auf der rechten Seite aufzubauen scheinen und Linksliberale plötzlich in die Rolle der Verteidiger dieses Systems geraten. Das einstmals progressive Element, das die linksliberale Seite war, die Dinge vorantreiben wollte und Alternativen denken wollte, hat sich jetzt komplett verkehrt und wird praktisch schon zu einem strukturkonservativen Teil der Gesellschaft, der die Rationalität der sachlichen Argumentation, die analytischen Entscheidungswege verteidigt.
An dieser Stelle will ich eine Denkstruktur stark machen, die ich von einem anderen Ehepaar her kenne. Das sind die beiden Münklers, die haben als Paar auch ein gemeinsames Buch, in dem sie zwei Pole zeigen: Sie sprechen von Faktizität versus Narrativität. Ich empfinde das als eine ganz erhellende Denkfigur, weil sie uns klar macht, wo hier die Balance wegkippt. Die These in vereinfachter Form: Es kommt auf die Balance zwischen diesen beiden Polen und drauf an, dass sie sich gegenseitig durchdringen und kontrapunktisch zueinander funktionieren, wenn ein System, ich bleibe bei Eurem Begriff des Haltens, stabil bleiben soll. Es muss beide Elemente geben, das narrative, das visionäre, gesponnene, alternative Denken und das faktische, logische, rationale, analytische Denken. Münklers meinen, wir sind in dem Modus, in dem diese Pole auseinanderdriften und eben nicht mehr miteinander kommunizieren. Das Narrative hat überhandgenommen für einen bestimmten Teil unserer Gesellschaft; das Faktizistische für einen anderen. So sind beide Hemisphären im Sinne der Echokammern, der Filterblasen, auch der Conformation-Bias, von denen wir vorhin sprachen, nicht mehr sprechfähig und kommensurabel. Das sind Welten, die stehen nebeneinander und treffen sich nicht mehr. Das ist sehr gefährlich für eine Demokratie. Diese Denkfigur ist unheimlich wertvoll, weil sie ein bisschen offener die Frage danach stellt, wie wir Wurmlöcher schaffen können, um die Begegnung zwischen diesen beiden Polen eben doch wieder hinzubekommen, also Diskurse von der Faktizität in die Narrativität zu übertragen und das Narrative wieder zurück in die Faktizität zu bringen.
WOLFGANG FRINDTE: Man könnte ja, wenn ich mal beim Narrativen bleibe, diese Verschwörungserzählungen als so ein Extrem der neuen Erzählungen betrachten. Jetzt bringe ich noch eine andere Denkfigur dazu: die des analytischen Denkens. Damit kann man über diese Verschwörungserzählungen, die ja auch gar keine Verschwörungstheorien sind, die es ja durchaus auch gibt, nachdenken. Wie groß war denn der Anteil der CIA beim Putsch 1973 gegen die Regierung von Salvador Allende in Chile? Das ist auch eine Verschwörungstheorie, die man aber prüfen kann. Also: Wie sieht das denn jetzt aus mit den Verschwö-rungserzählungen bei uns, auch im Hinblick auf folgende Generationen? Im wissenschaftlichen Bereich wissen wir, Hypothesen bestehen aus zwei Teilen. Sie haben einen faktischen Teil, der bezieht sich auf das Wissen, was wir relativ sicher schon über längere Zeit bestätigt haben und bestätigen konnten. Und dann haben wir den zweiten Teil der Hypothese, das Offene, das des Fragens Würdige. Bei den Verschwörungsideologien haben wir auch so eine Doppelstruktur, das erinnert auch ein bissel an Roland Barthes‘ Mythentheorie. Die Doppelstruktur der Verschwörungsideologien besteht ebenfalls aus einem faktischen Teil, aber ihr zweiter Teil ist kein hypothetischer Teil, der des Fragens würdig ist, sondern wird als tatsächlich, ich sag jetzt mal als postfaktisch gesetzt, als etwas, an dem nicht mehr zu rühren ist. Das ist die eigentliche Gefahr, wenn man es jetzt wieder im Großen denkt, für unser demokratisches Gemeinwesen. Dass wir also mit solchen Setzungen des Faktischen und Postfaktischen in die nächste Runde des Kampfes um unsere Zivilisation ziehen.
Und die andere Geschichte, auf die die Münklers aufmerksam machen, ist das Visionäre. Da fällt mir zunächst mal unser ehemaliger Bundeskanzler ein, der meinte, wer Visionen hat, der müsse zum Arzt gehen. Aber das muss er eigentlich gar nicht. Das ist interessant, zumindest aus meiner naiven historischen Sichtweise: Denn diese großen utopischen Entwürfe, also Thomas Morus‘ „Vom besten Zustand des Staates“, auch von mir aus Kants kleine Schrift „Zum ewigen Frieden“ oder „Nova Atlantis“ von Francis Bacon oder, noch schöner, „Das Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch. Dann denke ich natürlich auch an meinen Lieblings-Sozialpsychologen Erich Fromm und seine humanistischen Ideen, die auch sehr in die Zukunft gerichtet sind. Immer wieder sind es ja Umbruchszeiten, in denen solche Überlegungen entstehen. Ernst Bloch, wenn ich mich jetzt richtig erinnere, schreibt sein „Prinzip Hoffnung“ zwischen 1938 und nach dem Krieg 1947. Morus schreibt 1516 seinen Roman „Vom besten Zustand des Staates“ und nutzt den Begriff der Utopia als Erster… Also, immer in Umbruchzeiten, denen nicht einfach nur Krisen, sondern auch Katastrophen vorausgegangen sind.
Aber jetzt fehlt uns tatsächlich, auch mir persönlich, auch in den politischen Debatten, dieses visionäre Element, und interessanterweise, da hast Du völlig recht, machen die AFD und zum Teil auch führende FDP-Politiker darauf aufmerksam, wenn es um die Corona-Pandemie geht. Sie machen darauf aufmerksam, dass die Schritte, die die Regierung, die Bundesregierung, die Ministerpräsident*innen gehen, zu kurz gedacht sind, dass man darüber nachdenken müsse, was danach passiert. Da komme ich jetzt zu meinem praktischen Verständnis von Politik. Auf der einen Seite sehe ich, wie wir jetzt nicht bis in das Frühjahr hinein planen können. Was den Umgang mit der Corona-Pandemie betrifft, da sind kurze Schritte nötig. Kurze Schritte, die aber vielleicht nicht generell in der ganzen Bundesrepublik oder ganz Europa zu gehen sind, sondern die sich von den tatsächlichen Situationen vor Ort, in den Bundesländern ableiten. Das ist das eine. Das andere ist: Mir fehlen, nicht nur in dieser Zeit der Corona-Pandemie, sondern mir fehlen generell in den politischen Debatten die großen Entwürfe, das Nachdenken über große Entwürfe. Sie gibt es zwar außerparlamentarisch – siehe Fridays for Future oder die Scientists for Future. Diese Gruppen versuchen, solche Entwürfe, zunächst erst einmal als Kritik am Bestehenden, zu formulieren. Kritik an der momentanen, nationalen, europäischen oder auch globalen Klimapolitik. Doch wenn wir die nächsten 50 Jahre tatsächlich freudvoll leben wollen, dann reicht das nicht, dann müssen wir jetzt schon darüber nachdenken und auch tatsächlich praktische Schritte vollziehen: Da gibt es diese Mobilisierungen auf der Grundlage von Gesellschaftsutopien. In einem Teil der Zivilgesellschaft existiert das. Ich selber bin sehr für einen demokratisch-grünen Sozialismus. Und ich halte es für kontraproduktiv, dass man Leute, die von sozialistischen Ideen sprechen, in den oberen Etagen der Politik – ich denke etwa an den letzten Vorsitzenden der Jusos – sofort als Schulabbrecher abstempelt. Nein, wir müssen in unseren Zukunftsvisionen sehr offen sein, also im positiven Sinne offener sein und gleichzeitig überlegen, wo wir denn in 100, wenigstens vielleicht in 50 oder 20 Jahren sein wollen? Das passiert mir zu wenig. Auch wird oft einfach zu kurz gedacht. Wenn ich jetzt beispielsweise an die Klimapolitik der gegenwärtigen Bundesregierung denke, dann sehe ich da auch wieder sehr kurze Schritte, mit denen wir die 1,5° vielleicht nicht erreichen werden. Gut, die Grünen haben sich auf ihrem virtuellen Bundesparteitag für eine 1,5°-Lösung sehr stark gemacht. Dabei haben sie aber auch versucht, noch etwas anderes zu formulieren, nämlich die Idee mitbestimmender Bürgerräte. Diese Idee, die Bürgerinnen und Bürger über solche außerparlamentarischen Organisationsformen in die Politik stärker einzubeziehen, das finde ich beispielsweise mal spannend. Kurz und gut, nochmal – und ich denke, da bin ich auch bei den Münklers – dieses Changieren zwischen Narration und Visionärem, das halte ich für sehr wichtig, nur müssen wir das auch ernst nehmen.
JONAS ZIPF: Jetzt kommen wir wieder zurück auf die Mikrosysteme. All das, was wir jetzt in großen gedanklichen Schritten mal ausgelaufen sind, das beschreibt doch, dass es diesem faktizistischen Teil unseres gesellschaftlichen Diskurses an narrativer Vision und Phantasie mangelt, an großen Entwürfen. Du hast gesagt, man könne und solle nicht nur von einzelnen Maßnahmen, sondern ruhig auch mal wieder von Großen Erzählungen sprechen, dieses Fenster Richtung Francois Lyotard macht Ihr ja in Eurem Buch auch auf. Umgekehrt fehlt es dem Teil, der postfaktisch und narrativ unterwegs ist, an überprüfbarer, kritisierbarer, faktischer Grundlage. Es wird alles nur noch dahingehend instrumentalisiert und auf das ausgerichtet, was man für Erzählungen braucht, um damit bestimmte Ziele durchzusetzen. Darin sind AFD und andere um sie herum postierte Gruppierungen mittlerweile stark. Wir können dabei zusehen, wie sie die Gesellschaft durchfiltrieren.
Ich war am Montag beim Thüringer Innenminister Meier, und er hat diesen Prozess beschrieben als ein riesiges Geflecht von Wurzelpflanzen, die gerade wie Pilze aus dem Boden schießen. Die sind überall. Sie haben sich in die gesellschaftlichen Bereiche reingefressen, sie sind in den Vereinen, in den Feuerwehren usw. usf. – und das auch mit strategischem Ansatz: Sie verbreiten eben ihre Narrative postfaktisch, ohne quasi noch die harte Überprüfbarkeit irgendwie zu scheuen. Das hat mich sehr erschreckt, was er da beschrieben hat. Aber eigentlich ist es keine Überraschung, wenn wir wach beobachten, was um uns herum passiert, übrigens nicht nur in Thüringen oder Ostdeutschland. Die große Frage ist: Wo finden die Berührungspunkte noch statt, die zu einem Ausgleich führen, die als Korrektiv fungieren können? Wo kann das Narrative, um bei den Begriffen zu bleiben, als Gegengewicht im Faktizistischen und umgekehrt vorkommen – und wo kommt das Faktizistische im Narrativen vor? Da kommen wir unweigerlich auf die Mikrosysteme zurück. Die Frage ist, ob Ideen wie die der Bürgerräte die Haltepunkte und -kreis erreichen, von denenIhr sprecht. Und, wie Du es vorher gesagt hast: Kommunikation muss über diese Kreise hinweg stattfinden, wenn gesellschaftlicher Wandel im Sinne der nötigen anstehenden Transformationen, etwa des Klimawandels, gelingen sollen. Der Schlüssel liegt nicht nur jetzt inmitten des Lockdowns in Mikrosystemen. Wenn der Ausgleich zwischen den auseinander treibenden Polen in der Diskussion in der Familie oder im direkten nachbarschaftlichen Umfeld noch stattfindet – nur, wenn er dort noch stattfindet – kann so eine Great Transformation, eine große Transformation, vielleicht noch gelingen. Das ist nun wirklich keine besonders neue These – das sieht man ja an der Strategie der AfD –; es ist eher eine Erinnerung daran. Ob in den anstehenden Tagen unter dem Weihnachtsbaum oder in Vorbereitung eines Impftermins oder eines Begräbnisses: Da befinden wir uns im Glutkernpunkt des Haltens. Der muss wechselweise flüssig und fest sein, sonst hält er nicht und bricht: Der archimedische Punkt ist die beschriebene Mikroverständigung. Mir scheint aber, dass die Kerne der Mikrosysteme nur noch erhitzen und schmelzen. Und zwar vor allem, weil die Kontaktpunkte mit den äußeren Haltekreisen schwächer geworden sind. Es findet weit weniger Abkühlung, sprich: Ausbalancierung statt. Wir sind wie automatisiert immer öfter in den Medien unterwegs, die uns nicht widersprechen, sondern verstärken, bleiben also innerhalb der Filterblasen, der Confirmation-Biases, und treffen weit weniger auf „Gesellschaft“. Es fehlt eben gerade der Mittagstisch, von dem Jens Spahn redet, an dem diese Debatte geführt werden soll, Die Leute können nicht mehr gemeinsam Essen gehen, können keine Kulturveranstaltungen mehr wahrnehmen usw. Das ist mein vehementes Plädoyer für die physische Co-Präsenz, das Ereignis von Gesellschaft in öffentlichen Räumen, also in einem weit gedachten Begriff von öffentlichem Raum: Wir merken doch, dass das fehlt!
WOLFGANG FRINDTE: Noch eine Ergänzung zu dem, was Du von Deinem Besuch beim Thüringer Innenminister, bei Herrn Meier, erzählst. Ich sehe diese Gefahr auch. Wir haben es ja beispielsweise mit den QAnon-Leuten zu tun. Die sind 2017 das erste Mal in den USA aufgetaucht und verbreiten Verschwörungsmythen: Es gäbe Geheimregierungen, Bill Gates wolle die Menschheit zwangsimpfen, das Blut gefolterter Kinder würde als Substrat gewonnen werden, um die ewige Jugend zu ermöglichen…; besonders fielen sie mir wegen vieler damit oft einhergehender antisemitischer Anspielungen auf. An dieser Gruppe kann man mustergültig sehen, wie eine vermeintlich bürgerliche Bewegung wie die der Corona-Skeptiker systematisch in Richtung rechten Gedankenguts getrieben werden. Das Problem ist nun, und auch da habe ich keine Antwort: Mit solchen Querdenker*innen, die nicht selten auch in der eigenen Familie zu finden sind, kann man nicht reden. Ich halte es nicht für möglich, mit den Rechten zu reden, ich halte es auch nicht für möglich, mit den Verschwörungsmystiker*innen zu reden. Ich halte es für viel wichtiger, dass wir unsere Positionen, unsere, sagen wir mal, aufgeklärteren Positionen, stark machen und offensiver vertreten, was wir viel selten tun. Ich verstehe die führenden Politikerinnen und Politiker, die so etwas wie eine Harmonie in dieser Gesellschaft herstellen wollen und Alle mitnehmen wollen. Aber tatsächlich scheint es doch ganz klar zu sein, dass man mit 20, 25 Prozent der Leute erstmal momentan nicht reden kann. Wenn wir jetzt wieder auf diese Mikroebene schauen und uns beide fragen, inwiefern diese kleinen mikrosozialen Kreise – Freundeskreise, Ehe, Familie, Liebesbeziehungen – wie die uns Halt geben können, da muss man zunächst mal realistisch sagen: Wir sind in den letzten Monaten mächtig in die Labilität, ins Ungleichgewicht gebracht worden. Historisch nicht das erste Mal. 1989/90, nach der Revolution in der DDR, war so eine Labilität auch sehr offenkundig – ich kann jetzt allerdings spontan nicht mit Zahlen argumentieren – es war mitzuerleben, wie Intimbeziehungen zerbrachen, Ehen geschieden wurden, ganze Familien auseinanderdrifteten. Und etwas Ähnliches erleben wir momentan auch! Was kann man dagegen tun? Irgendwie müssen wir uns sozusagen über die Zeit retten.
JONAS ZIPF: Oh Gott ja, Über-die-Zeit-retten, das ist mal ein Stichwort!! Ich glaube aber, dass da ein wesentlicher Unterschied zu 1989/90 existiert– damals war quasi ein Danach zumindest umrissen. Du hast vorher davon gesprochen, es wurde auch überladen, es wurden Hoffnungen hineinprojiziert, die sich so nicht erfüllt haben. Aber es war eben klar: Es geht weiter und man machte sich sogar eine ungefähre Vorstellung davon, wie das aussehen würde… Darin liegt jetzt ein zentraler der Unterschied!
Im Moment steht nur die Überschrift „Über die Zeit kommen“ und möglichst viel retten, einfrieren, überwintern lassen und schauen, was danach noch übrig ist, um quasi eine Stunde-Null zu haben, von der an man wieder aufbauen kann. Dahinter ist bisher kein neuer Horizont, kein Aufbruch in eine neue, veränderte Zeit erkennbar. Im Gegenteil: Lieber sprechen alle vom volkswirtschaftlichen V-Effekt. Als wären die Probleme, die Corona ja nur hochspült, nicht schon vorher da gewesen… An dieser Stelle würde ich aber gerne noch einmal zurückspulen für die letzte Kurve unseres Gespräches. Ich möchte zurückkommen auf die Frage von Sprechfähigkeit, die Frage, ob und wie mit Rechten reden, ob und wie mit Verschwörungs-Mystikern reden. Mein Vater ist ein überzeugter Sozialarbeiter, der hat mir als Jugendlichem immer eingebläut: Unterscheide bei jedem Gespräch die Gefühls- von der Sachebene! Das war so eine Dichotomie, die wir, vielleicht mit der Narrativität und der Faktizität verbinden können, und in diesen Gesprächssituationen im Mikrokosmos ist das möglicherweise ein zentraler Punkt. Viele Gesprächssituationen sind ja per se asymmetrisch, weil beide Seiten von ganz unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Nehmen wir noch mal die Impfdiskussion bei uns zuhause: Die Skepsis meiner Frau gegenüber Langzeitfolgen, die zum jetzigen Zeitpunkt einfach nicht vollends ausgeschlossen werden können! Meine Skepsis gegenüber der Skepsis ist wiederum geprägt von der allgemeinen Hysterie, dem immer rauer werdenden Beschwerdeverhalten, der mitunter direkten Konfrontation mit den angesprochenen Gruppen unserer Bevölkerung! Beide gehen wir also auf höchst unterschiedlichen Emotions- und Sachebenen aufeinander zu und haben die Sichtweise des Anderen aufgrund der schon ins Gespräch mitgebrachten Emotionalität bereits über einen Kamm geschoren, bevor wir uns überhaupt erst zuhören konnten. Diese Beobachtung hat noch gar nichts mit geschlossenen Weltbildern oder Sprechfähigkeit zu tun, und dennoch steckt darin schon das Gift der Polarisierung.
Es existieren einfach ganz unterschiedliche Voraussetzungen für ein Gespräch, was dann einfach nicht mehr gelingen kann. Weil die Emotion diese Offenheit für die rationale Argumentation einfach verschließt. Das Rationale, an dem wir uns jetzt auch festhalten, wenn wir von Haltepunkten reden, versucht ja irgendwie, sich über dem Wasser dieses Bauchs der Emotion zu halten. Und das ist, glaube ich, etwas, was durchaus auch als Schema anliegt – ich will Dir überhaupt nicht widersprechen, dass es wahrscheinlich weniger Zweck hat, mit den Rechten und den Verschwörungsmystikern zu reden anstatt die eigenen Positionen stark zu machen und auch nicht immer in diese Abwehr- und Rechtfertigungshaltung zu kommen. Und, ja: Wir sollten das Projekt der Aufklärung, das Projekt der Moderne wieder zurück reklamieren, da bin ich ganz bei Dir. Aber diese Wurmlöcher in der Kommunikation, von denen ich vorher gesprochen habe, können nicht einfach beseitigt werden, auch nicht in dem Sinne, dass wir unsere eigene Positionen stark machen, dafür müssten wir ja dennoch, vielleicht nicht diese besagten 20 bis 25 Prozent erreichen, die wir nicht erreichen werden, aber eben doch noch den erheblichen übrigen Teil einer Gesellschaft, der vielleicht in Richtung der 20 bis 25 Prozent kippen könnte. Hier gibt es etwas, was Harald Welzer als „Shifting of the Baseline“ benennt, also einen moralisch-politischen Haltepunkt, der schleichenderweise überschritten wird. Bestimmte Positionen fressen sich immer weiter in die Mitte der Gesellschaft rein und finden in Einzelpunkten auch anschlussfähige Mehrheiten. Im bildungspolitischen Bereich etwa sagen sicher mindestens mehr als 50, 60 Prozent, dass sie finden, die Genderbewegung übertreibt. Oder, jetzt bezogen auf meinen Bereich: Dieses Regietheater außer Rand und Band, das sollte man abschaffen. Da sind AfD & Co sehr anschlussfähig, an diesen Punkten. Und diese Punktewerden als Einzelpunkte auch geschickt benutzt, um diese Baselines zu shiften und immer mehr Leute ins eigene Lager rüber zu ziehen. Hier werden die Grenzen der ein oder anderen Echokammer und Filterblase abgetragen und überschritten. Was ich damit sagen will: Wir müssen, glaube ich, auch auf der Ebene der Emotionen die Leute so mitnehmen, dass sie wiederum offen bleiben für die rationalen Argumente. Das ist allerdings ein ganz schön kippeliger Punkt. Wir haben das erlebt beim letzten SPD-Kanzlerkandidaten, da war für eine kurze Zeit ein Fenster da, ein Momentum aktiv, das die populistische Seite emotional mitbedient hat. Ich meine Martin Schulz, als Typ, mit seiner Art und Weise zu sprechen, rhetorisch usw. Er hatte da nicht ganz umsonst ganz kurz eine irre Zustimmung, auch aus akademischen und linksliberalen Kreisen. Im Nachhinein fühlt sich das wie ein Strohfeuer an und hinterlässt einen noch ernüchterter als davor schon. Aber es hat uns eines gezeigt: Um aus unserer eigenen Ohnmacht rauszukommen, sollten wir die Emotionen nicht vergessen und uns – auch auf der emotionalen Ebene – klar abgrenzen!
WOLFGANG FRINDTE: Da bin ich jetzt als Psychologe natürlich ganz bei Dir. Wir wissen: Emotionen sind sozusagen die ersten Entscheider. Wir klären unsere Beziehung zur Umwelt zunächst mal über unsere Emotionen, weil sie die ersten, ganz schnellen Bewerter sind. Nun ist aber die Frage, um welche Emotionen es eigentlich geht? – Wenn wir Angst empfinden, versuchen wir uns zurückzuziehen; wenn wir wütend sind, gehen wir auf das Objekt unserer Begierde oder unseres Angriffs zu. Emotionen spielen auf der individuellen, aber auch auf der Gruppenebene eine ganz entscheidende Rolle. Nun ist die Frage, um welche Emotion geht es denn denjenigen, die nicht einfach nur gegen das Impfen sind, sondern die Corona als Fake betrachten? Die befinden sich ja momentan in einem Wutmodus. Wie kriegt man sie da wieder raus? – Das ist auch zunächst mal eine Frage der Zeit. Und es ist gleichzeitig auch die Frage der anderen Seite: Wie verhalten sich die „Guten“, wie verhält sich die Politik, die etablierte? Wie verhalten sich die aufgeklärten Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Wut der Anderen: Werden wir jetzt auch wütend? Dann schaukelt sich das Ganze tatsächlich auf, und dann kriegen wir möglicherweise tatsächlich Verhältnisse wie in den 1930iger Jahren. Da war die Wut auf die jeweiligen politischen Antipoden ja auch sehr ausgeprägt, und der Hass. Wie kommt man da wieder raus? Man kann natürlich, das ist so ein bisschen Küchenpsychologie, sagen: Lasst doch erst mal die Wut der Anderen verpuffen, lasst die sozusagen ins Leere laufen, nehmt sie nicht so sehr ernst. Noch ist diese Gesellschaft in ihrer demokratischen Verfasstheit ja nicht bedroht in dem Sinne, dass da übermorgen schon die Konterrevolution vor der Tür steht. Nach wie vor sind es Minderheiten, die sich aber – das ist dann ein nächstes Problem –, glaube ich, nicht einfach nur als Minderheiten aufhalten, sondern die sich auch innovativ zu äußern verstehen. Da gebe ich Dir recht. Denn ich bin ja ein großer Anhänger der These, dass gesellschaftlicher Wandel durch soziale Minderheiten vollzogen wird. Nicht nur der gesellschaftliche Wandel. Auch der wissenschaftliche Wandel ist nicht einfach gleich durch den Konsens der Wissenschaftler*innen entstanden, sondern durch Stochern in Unklarheit, und dieses Stochern haben Einzelne oder Minoritäten übernommen. Also, prinzipiell bin ich ein großer Anhänger von innovativen Minderheiten. Und die Rechten versuchen nun, diese Strategien 1:1 zu spiegeln und für sich zu übernehmen.
JONAS ZIPF: Als Kulturschaffender würde ich von dem mittlerweile etwas angestaubten Begriff der Avantgarde sprechen. Ein Psychologe wie Lew Wygotski sagte: Sprache kommt vor dem Denken…
WOLFGANG FRINDTE: Den Begriff der Avantgarde hat auch Serge Moscovici, ein großer französischer Sozialpsychologe, ein großer Europäer, der leider nicht mehr lebt, in die Welt der Sozialpsychologie gesetzt. Moscovici hat diese Parallelen zur Avantgarde, zu den innovativen Minderheiten in politischen Spektren immer wieder betont, insofern ist das völlig klar. Aber die Mechanismen oder die Empfehlungen, die Moscovici diesen potenziell innovativen Minoritäten mitgegeben hat, das sind Empfehlungen, die momentan tatsächlich die Minoritäten aus dem Rechtsaußenspektrum nutzen, um sich in die Mitte der Gesellschaft hinein zu bewegen. Also müssen, sozial gesagt, die aufgeklärten, sozialen, künstlerischen, wissenschaftlichen Minoritäten dagegenhalten. Das ist, jetzt passt das wunderbar, die Avantgarde – die, die sich an der Spitze mehrheitlich nach wie vor noch sehr schweigsam bewegen, die müssen sich jetzt äußern. Mit anderen Worten WIR, wir Künstlerinnen und Künstler, wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wir müssen uns äußern und müssen uns in diesen Streit überhaupt erstmal begeben. Wir müssen auch akzeptieren, dass in den eigenen Reihen nicht unbedingt immer gleich Konsens herrschen muss. Das zu zeigen, ist, glaube ich, wichtig. Ich meine: Wissenschaftler*innen sind auch nur Menschen. Insofern wie Paul Feyerabend, mein Lieblingsphilosoph immer wieder meinte: Sie sind faul, klug, manchmal sind sie sexsüchtig und alkoholabhängig, und dann sind sie auch wieder ganz normal. Aber sie sind eitel, das beobachtet man momentan auch beim wissenschaftlichen Austausch der Medizinexpert*innen. Wie da oftmals diese Eitelkeit im Mittelpunkt steht: dass man sich auf der Vorderbühne bewegt und gleichzeitig die Mitspieler in den Hintergrund drängen will. Das ist kein gutes Bild von Wissenschaft. Wissenschaft muss streitbar sein, muss sich auch mit strittigen Themen befassen, und das auch in einer streitbaren Atmosphäre. Man muss nicht einer Meinung sein, aber man muss auch nicht immer der Auffassung sein, dass man als Einzelner oder als einzelne Gruppe in Besitz der absoluten Wahrheit ist. Das ärgert mich momentan, wie die Auseinandersetzung zwischen den Epidemiologen und den Virologen hin und wieder vonstattengeht. Ähnliches habe ich in meinen Forschungen zum Antisemitismus erlebt: Plötzlich kriegten sich die Antisemitismus-Forscherinnen und -Forscher in die Haare und das in aller Öffentlichkeit … Ich habe damals gesagt, dass sich da doch die tatsächlichen Antisemiten in die Hände klatschen und daran freuen, wie sehr sich die Antisemitismus-Forscher*innen diesbezüglich nicht einig sind. Meiner Meinung nach muss man nicht jede wissenschaftliche Kontroverse in der Öffentlichkeit austragen, dazu haben wir in der Wissenschaft schließlich unsere Publikationsorgane und andere Möglichkeiten.
JONAS ZIPF: Ich schneide Dir mal das Wort ab, leider und dennoch ganz bewusst. Denn das war ein tolles Plädoyer, mit dem wir, glaube ich, eine Kurve kriegen können zum Ende des Gespräches. Dein Plädoyer weist für mich in die Richtung unseres Verantwortungs- und Rollenverständnisses. Du hast das jetzt für die Wissenschaft ausgelotet, aber es lässt sich durchaus auf mein Rollenverständnis in der Kultur übertragen. Ich möchte nur noch ein Letztes ergänzen zu Deiner Anmerkung bzgl. Avantgarde und deren Beginn im Mikrosystem. Darin liegt vielleicht ein wesentlicher Unterschied, den man zu Avantgarde-Bewegungen der 60er und 70er Jahre machen muss. Damals wich ja manchmal das politische, öffentliche Handeln und Wirken in krasser Weise vom eigenen Mikrosystem ab. Darüber wird bei uns im Kultursektor und Theater ganz viel diskutiert: Was auf den Bühnen verhandelt wird, bedeutet noch lange nicht, dass es in den Betrieben hinter den Bühnen dann auch so umgesetzt wird. Das wäre vielleicht der Unterschied, den man in punkto Glaubwürdigkeit machen muss, zumindest solange man auch die Emotionen der Menschen für diese Aspekte gewinnen will. Das haben wir jetzt hier und heute ganz gut erwischt. Aber prinzipiell können wir nicht mit Wut dagegen halten, unser Protest muss irgendwann zu einer positiven, nicht einer Ex-Negativo-Narration führen. In diesem Jahr war in Thüringen ganz oft vom „Dammbruch“ die Rede, vom Anti-Höcke-Damm Richtung der anderen 20, 25 Prozent. Dahinter muss aber das falsche Leben im richtigen, in Umkehrung der alten Adorno-Formulierung, endlich aufhören. Darin muss die Narration kongruent werden. Dann hätten wir einen wesentlichen Unterschied zu gestalten vermocht. Und so verstehe ich auch diese Hinweise, sowohl Deinen Hinweis auf die Menschlichkeit der Wissenschaft, als auch den Hinweis auf die jeweiligen Dimensionierungen im Kontext des eigenen Handelns als Wissenschaftler. Es geht darum, zu wissen, wann ich welche gesellschaftliche Wirkung erziele. Gilt für die Virologen-Epidemiologen-Diskussion übrigens genauso.
WOLFGANG FRINDTE: Dazu will auch ich noch einen letzten Satz ergänzen: Ich hatte im Frühjahr mit meiner Frau kurzzeitig ein Publikationsprojekt verfolgt, das sich mit der Inszenierung der Corona-Pandemie beschäftigen sollte. Den Inszenierungsbegriff haben wir aus dem Theater genommen, also nicht in dieser alltäglichen Form des Ablehnens, Nur-zur-Schau-Stellens, sondern wirklich Inszenierung im Sinne von In-Szene-Setzen bzw. von Framing. Davon sind wir aber jetzt ganz abgekommen und haben gesagt: Nein, wir werden uns mit dieser Pandemie nicht beschäftigen, sondern wir verfolgen jetzt ganz intensiv das Publikationsprojekt, das wir nach dem „Halt in haltlosen Zeiten“ angefangen haben, vom Humanismus und seinen Gegnern. Zum Abschluss möchte ich meine optimistische Sicht aus dieser neuerlichen Beschäftigung mit dem Humanismus teilen: Ich halte es für durchaus machbar und denkbar, dass das Positive im Ergebnis unserer Corona-Pandemie vielleicht übrig bleiben könnte. Das wäre ein neues Nachdenken über das Humane und den Humanismus im 21. Jahrhundert …
JONAS ZIPF: Daran müssen wir arbeiten, lieber Wolfgang! Darauf – auch auf Euer neues Buch – freue ich mich sehr. Zum Abschluss danke ich Dir sehr für diese anregende Stunde. Es war für mich, ähnlich wie schon im Frühjahr und Sommer, eine reichliche Stunde, die mir mental dabei hilft, diesen ganzen Wahnsinn zu bewältigen. Ich muss jetzt gleich, mit fast 10 Minuten Verspätung, in die nächste Krisensitzung: Ich komme aus einer und gehe in eine, und dazwischen ist es so wichtig, die Gedanken zu lüften, ich danke Dir sehr dafür.
WOLFGANG FRINDTE: Ich danke Dir für die wirklich interessanten Ideen, die Du geäußert hast. Wir haben, glaube ich, eine gute Brücke gefunden.
JONAS ZIPF: Grüß Umberto*
WOLFGANG FRINDTE: Und Du Lew Wygotski*
JONAS ZIPF: Ciao.
WOLFGANG FRINDTE: До свидания!
Der erste Teil von Jonas Zipfs Corona-Gesprächen ist als Buch beim Verlag Theater der Zeit unter dem Titel „Inne halten. Chronik einer Krise. Jenaer Corona-Gespräche“ Ende letzten Jahres erschienen. Nun begleitet uns die Pandemie – leider – noch ein Stück weiter. Und so haben wir beschlossen, unsere Reihe hier im Blog fortzusetzen. Die Fragen ändern sich. Probleme spitzen sich zu.
Teilen Sie uns gern mit, was Sie im Moment umtreibt, was Ihnen Halt und Hoffnung gibt, worüber Sie diskutieren möchten?
Mit Zuversicht durch finstere Zeiten,
Lenzes Freuden gegen Corona-Leiden.
CORONA-FRÜHLING
Frühling lässt flattern sein blaues Band,
Doch Corona hält im Griff das Land.
Mit Hoffen auf Impfung und Test
Steuern wir an das Osterfest.
Trotz Shutdown und Inzidenz
Zieht nun ein bei uns der Lenz.
Es grünt in Wald und Wiese,
Der Frühling kennt keine Krise.
Farbenpracht und Blütenduft
Locken an die frische Luft;
Labsal für Seele und Brust,
Wanderlust statt Coronafrust.
Tabu ist noch der ferne Strand,
Erkunden wir das Heimatland.
Rainer Kirmse , Altenburg
Herzliche Grüße aus der Skatstadt