Kunstwerke und Artefakte können uns viele Geschichten erzählen: die ihrer Entstehung und ihrer Urheber:innen, von Glaubensweisen und Lebensarten der Zeit, der sie entstammen, persönlichen Schicksalen und vielem mehr. Ihre eigene Geschichte jedoch ist oft schwer zu rekonstruieren und birgt nicht selten eine unmoralische oder gar verbrecherische Herkunft – etwa von sogenanntem „NS-Raubgut“, also Werken, die ihren insbesondere jüdischen Eigentümer:innen infolge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verfolgungsbedingt entzogen wurden.
In der Kunstsammlung Jena wurden die eigenen Bestände bereits im Jahr 2014 systematisch auf ihre Provenienz, also Herkunft und Besitzverhältnisse, untersucht. Manuela Dix leitete diese Forschungen und berichtet hier von Vorgehensweisen, Erkenntnissen und Erträgen dieser Detektivarbeit.
Als ich im Jahr 2014 das auf drei Jahre angelegte Projekt der Provenienzforschung in der Kunstsammlung Jena begann, war diese die erste Institution unter kommunaler Trägerschaft in Thüringen, die sich mit der systematischen Aufarbeitung der eigenen Sammlungsgeschichte im Kontext der Verbrechen der Nationalsozialisten auseinandersetzte.
Nachdem die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Besitzverhältnisse der in Museen und Sammlungen befindlichen Kunstwerke in den letzten Jahren an öffentlichem und medialem Interesse zugenommen hat, beschäftigen sich immer mehr Häuser mit ihrer eigenen Vergangenheit. So auch die Kunstsammlung Jena, deren Bestände sich im Wesentlichen aus drei Schwerpunkten zusammensetzen:
- Werke aus der Sammlung des ehemaligen Jenaer Kunstvereins (vorwiegend Klassische Moderne)
- Werke aus der Zeit der SBZ (Sowjetischen Besatzungszone) bzw. DDR
- internationale zeitgenössische Werke
Zum Gegenstand meiner Recherchen wurden alle Werke, die seit 1933 in die Kunstsammlung gelangten und die bis 1945 geschaffen worden waren. So blieben von den ca. 4.000 Arbeiten, die sich 2014 in der Sammlung befanden, noch ungefähr 1.100 Werke aus den Bereichen Malerei, Druckgrafik, Zeichnungen und Aquarelle zur weiteren Recherche übrig.
Durch lückenhafte Dokumentation bei der Bestandsaufnahme, wenig Quellenmaterial und fehlende Unterlagen gestaltete sich meine Arbeit überaus schwierig. Ein wichtiger Arbeitsschritt war die Sichtung der Kunstwerke und die fotografische Dokumentation aller möglichen Hinweise und Merkmale, welche Informationen zum Werk und dessen Geschichte liefern könnten. Das sind u. a. Stempel, Aufkleber, Signaturen, Wasserzeichen oder Bezeichnungen. Mit den Ergebnissen konnte ich anschließend mit der tieferen Recherche beginnen, Archive und Bibliotheken aufsuchen, Galerien kontaktieren und dergleichen.
Nach meiner dreijährigen Arbeit ergab sich für die Kunstsammlung Jena folgendes Bild: Für ca. 3.500 Werke ließ sich eine unbedenkliche Provenienz rekonstruieren, etwa 420 Arbeiten haben eine bislang nicht eindeutig geklärte Provenienz und 10 Kunstwerke weisen eine bedenkliche bzw. belastete Herkunft auf. Das bedeutet, dass Hinweise auf einen NS-verfolgungsbedingten Entzug existieren. Sie alle stammen vom ehemaligen Jenaer Kunstverein, dessen Sammlung in den 1930er Jahren in den Besitz der städtischen Kunstsammlung überführt worden war. Der damalige Museumsdirektor Werner Meinhof hatte sie erworben, zum Teil im Kunsthandel, zum Teil in einer großen Tauschaktion im Jahr 1937 mit der Galerie Nierendorf in Berlin.
Während erstere sich nicht eindeutig zurückverfolgen lassen, liegt für die Werke aus der Tauschaktion ein eindeutiges Bild vor. Diese vier Arbeiten von Lovis Corinth, Otto Dix, Carl Hofer und Georg Schrimpf waren von dem jüdischen Unternehmer Eugen Buchthal um 1937 in die Galerie Nierendorf eingeliefert worden, kurz bevor dieser 1938 nach Großbritannien emigrierte. Da es sich hier um eine Flucht aufgrund der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten gehandelt hat, müssen die vier Kunstwerke als NS-verfolgungsbedingt entzogen gelten. Daher wurden sie der Lost Art-Datenbank gemeldet – einer Plattform, auf der Objekte mit Hinweis auf einen NS-verfolgungsbedingten Entzug veröffentlicht werden können, bzw. nach vermissten Werken gesucht werden kann.
Sollte sich auf unseren Lost-Art-Eintrag eine anspruchsberechtigte Person melden, werden wir bemüht sein, eine faire und gerechte Lösung zu finden. Das könnte neben der Rückgabe oder dem Rückkauf auch eine Tauschvereinbarung oder der Abschluss eines (Dauer-)Leihvertrages sein. Die verbliebenen 6 Werke, für die eine bedenkliche Herkunft nachgewiesen wurde, müssten weiter untersucht werden. Bis zum Abschluss meiner Recherchen fehlten in diesem Fall noch Unterlagen wie Versteigerungskataloge oder Angebotslisten, die eine Verbindung zu einem Vorbesitzer und einem möglichen Entzug im Zusammenhang mit der NS-Diktatur belegen.
Betrachtet man schließlich die Ergebnisse des Projektes, wirken die Zahlen der Objektstatistik zunächst wenig spektakulär. So konnten nur 0,1 % der Werke als NS-verfolgungsbedingt entzogen identifiziert werden.
Darüber hinaus ergaben sich verschiedene positive Nebeneffekte, allen voran der Erwerb eines moralischen Siegels, welches die Kunstsammlung Jena als eine Institution ausweist, die keine Scheu vor dem kritischen Blick in die eigene Historie hat. Nicht zu unterschätzen ist auch der Wissenszuwachs um die Sammlung, die mit dieser intensiven Recherchearbeit einhergeht. Insofern hat sich dieses Projekt für mich im Nachhinein als eine äußerst dankenswerte, wenngleich nicht immer erfüllende Aufgabe dargestellt, denn nicht selten liefen Recherchen ins Leere und hinterließen Desiderate, die letztlich keine lückenlose Verfolgung der Provenienzen zum Ergebnis hatten.
Nichtsdestotrotz ist Provenienzforschung ein wichtiger Bestandteil der Museumsarbeit, welcher im Tagesgeschäft oft zu kurz kommt. So gehört doch zu ihren Kernaufgaben neben dem Sammeln, Forschen und Bewahren auch die Wissensvermittlung. Daher sollten Museen auch das Selbstverständnis haben, Verantwortung zu übernehmen und das Wissen um die eigene Geschichte, zu der auch die Herkunft der Kulturgüter gehört, zu erforschen, zu hinterfragen und zu dokumentieren. Denn Provenienzforschung ist viel mehr, als ein bloßes Feststellen von Standorten und Besitzverhältnissen, vermag sie es doch Lebenswege nachzuzeichnen und Schicksale ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Insofern ist die Provenienzforschung ein essentielles Werkzeug gegen das Vergessen!
Vielen Dank für diese spannenden Einblicke, Frau Dix!
Hätten Sie gewusst, welch detektivische Forschungen in einem Museum anfallen, liebe Leserin und lieber Leser? Haben Sie selbst sich schon mit der Provenienzforschung beschäftigt oder haben Sie eine Frage an unsere Expertin?
Wie immer freuen wir uns, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen!