Heinrich Gerland an Eduard Rosenthal Jena, den 29. Mai 1922
Lieber Herr Kollege!
Es macht mir eine große Freude, Ihnen nunmehr meinen Grundriß übersenden zu können. […] Wenn ich dieses Werk, was ich wirklich als die Quintessenz meiner hiesigen Tätigkeit auffassen kann, Ihnen widme, lieber Herr Kollege, so glauben Sie mir, daß es von Herzen kommt. […] Als ich am 22. April 1902 hier eintraf, war ich noch ein recht törichter junger Mensch in dem schönen Alter, in dem man noch recht verliebt sein kann, und mit einem Charakter, der, wie er sich nach außen hin auch geben mag, vielleicht doch etwas stärker durch seine Empfindungen beeinträchtigt wird, als die Umgebung gemeiniglich annimmt. Ich habe mich damals nur äußerst schwer von Strassburg, an dem ich heute noch leidenschaftlich hänge, und von meiner Familie trennen können. Ich sah mich in eine ganz fremde Umgebung versetzt, und da ich einen sehr konservativen Zug in meinem Herzen habe, ist mir die Eingewöhnung in die Jenenser Verhältnisse schwer gefallen. […] Hier haben Sie nun die Ausnahme gemacht, die mir in Wahrheit das Einleben ermöglichte. Von dem ersten Besuch an, den ich in Ihrem wunderschönen Heim gemacht habe, von der ersten Einladung an (das war ein Mittagessen) habe ich bei Ihnen stets dasselbe gefunden, das warme starke Interesse, die Sorge für den Jüngeren, und wenn ich daran denke, wie Sie mir mit offenem Rat stets zu helfen bereit waren, wenn ich an die schönen Abende in der Staatswissenschaftlichen und Historisch-philosophischen Gesellschaft denke, wenn ich alle die Nachsitzungen nach diesen Diskussionsabenden in meiner Erinnerung an mir vorüber ziehen lasse, dann sind immer Sie und Sie es wieder, der mir in den eigentlichen Etappen meines Lebens hier in Jena zur Seite geht. Von all denen, die im Jahre 1902 mit uns zusammen gearbeitet haben, sind wir ja auch in der Fakultät die beiden letzten. Alle anderen, mögen sie dienstälter sein oder nicht, sind doch erst beträchtlich später gekommen, und die Tradition in der Fakultät verkörpern Sie und ich. Dieser Tradition, soweit es Ihre Person betrifft, meine Reverenz zu machen, das war auch einer der Gründe, warum ich Ihnen mein Buch gewidmet habe. Aber wenn ich ganz aufrichtig sein darf, sind es nicht nur Sie gewesen, dem dieses Buch wenigstens in Gedanken gewidmet ist. Bei allen unseren Beziehungen spielt doch eine wesentliche Rolle Ihre Frau Gemahlin. Was ich ihr zu verdanken habe, brauche ich Ihnen ja nicht weiter auseinanderzusetzen. Aber wenn ich meine Arbeit namentlich nur Ihnen gewidmet habe, so möge Ihre Frau Gemahlin überzeugt sein, daß der dadurch ausgesprochene Dank auch ihr mit gilt, denn in keinem Haus […] habe ich mich so wohl, ja ich möchte sagen, so zu Hause gefühlt wie bei Ihnen. Ich glaube, daß Ihre Frau daher ein gutes Teil der Widmung für sich in Anspruch nehmen darf, und ich möchte darum bitten, daß sie das auch tut. Und nun, lieber Herr Lehrer, dem ich so viel in der historischen Auffassung der Rechtsverhältnisse, in der politischen Durchdringung der Probleme verdanke, lieber Herr Kollege, mit dem ich viele gemeinsame Arbeiten zum Wohl unserer Fakultät und unserer Universität zusammen geleistet habe, und schließlich, wenn ich so sagen darf, lieber Freund, mit dem ich so viele lange Jahre schöne und gute Tage zusammen verlebt habe, lassen Sie mein Buch einen Wegweiser auch für die Zukunft sein, daß wir noch viele Jahre so zusammen wirken werden, wie wir es bis heute getan haben, und daß unsere Beziehungen die alten bleiben, die sie bis jetzt waren.
In Treue Ihr Heinrich Gerland