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Vielfalt im Fokus: „Zusammen leben, zusammen wachsen“ – JenaKultur-Blog
Allgemein Ernst-Abbe-Bücherei Jena

Vielfalt im Fokus: „Zusammen leben, zusammen wachsen“

Eine junge dunkelhaarige Frau schaut sich gemeinsam mit einem kleinen, dunklehaarigen Mädchen ein Buch in einer Bücherei an

„Zusammen leben, zusammen wachsen“ war das Motto der Interkulturellen Woche 2020, die bundesweit vom 27.09. bis 04.10.20 stattfand. Auch die Ernst-Abbe-Bücherei Jena beteiligte sich mit einem spannenden Programm. Mit drei Veranstaltungen, einem Thementisch und Medienbeuteln für Kinder wurden Fragen nach dem gemeinsamen Zusammenleben, nach Heimatgefühl und Perspektivwechsel gestellt.

Das Zusammenleben in einer vielfältigen Stadtgesellschaft erfordert den Austausch mit einander, gemeinsames Erleben, zusammen Wachsen und Einander-Zuhören. Während der Interkulturellen Woche kamen Geschichtenerzähler*innen, Autor*innen und Künstler*innen zu Wort, die über Toleranz und Diskriminierung, über Vorurteile und Gemeinsamkeiten sowie Ängste und Hoffnungen schreiben und sprechen. Mit den Angeboten der Ernst-Abbe-Bücherei wurden Bücher und Filme für verschiedene Altersgruppen empfohlen, die zum Perspektive-Wechseln einladen. Bei den Lesungen konnten die Anwesenden lauschen, lernen und Einblick in die Lebenswelt von Menschen gewinnen, die oft „anders“ behandelt oder als „fremd“ angesehen werden.

Die Hoffnungen der Geflüchteten in Jena

Viele Menschen sind in den letzten Jahren als Geflüchtete, als Fremde, nach Jena gekommen. Sie mussten sich mit einer neuen Sprache, neuen kulturellen Regeln und dem Fremdsein auseinander setzen. Viele dieser Neu-Jenaer*innen stammen aus Syrien und mussten aufgrund des langjährigen Bürgerkriegs von dort flüchten. Sie leben nun zusammen „mit uns“ und versuchen, sich in die für sie neue Situation und Rolle hinein zu finden und mit der Gesellschaft vor Ort zu (ver-)wachsen.

Im Rahmen einer Schreibwerkstatt zum Thema „Flucht und Vertreibung“ wurden individuelle Geschichten von acht Autor*innen syrischer Herkunft gesammelt und zu einem Band zusammengefasst:

Die Ernst-Abbe-Bücherei bot so einigen Geflüchteten die Möglichkeit, ihren Geschichten und Erfahrungen Gehör zu verschaffen und trug damit zum Dialog mit den neuen Jenaer*innen bei.

Sie alle berichten in kurzen Texten von ihrer Kindheit, dem Krieg, der Flucht und dem Ankommen in Deutschland. Dass die Autor*innen grundsätzlich zuversichtlich sind, zeigt schon der Titel des entstandenen Büchleins: „Hoffnung“.

Hier können Sie die Broschüre „Hoffnung“ herunterladen (4 MB).

Cover der Broschüre "Hoffnung"
©LöweDesign Jena

 

Er habe bereits „erste Wurzeln geschlagen“ und verstehe „die Menschen und die Kultur hier besser“, so Ibrahim. Die innere Zerrissenheit zwischen alter Heimat und neuem Zuhause bleibt für Geflüchtete jedoch oft ein alltäglicher Drahtseilakt – auch für Ahmed:

„In Deutschland habe ich viele gute und wundervolle Menschen getroffen, leider aber auch schlechte und rassistische. Nun, überall auf der Welt gibt es gute und schlechte Menschen. Und ich habe viel nachgedacht. Ich suche immer noch nach dem, was war. Und muss mir doch Mühe geben, loszulassen, um wieder aufstehen zu können. Trotz und wegen allem bin ich Deutschland sehr dankbar.“

Alle Autor*innen beschreiben ihre große Dankbarkeit Deutschland gegenüber und das empfundene Glück, in einer friedlichen Demokratie leben zu dürfen. Doch immer blitzen auch die diskriminierenden Erfahrungen auf. Die 16-jährige Viyan schreibt zum „Ankommen“ in ihrem neuen Zuhause:

„Nun sind wir alle in Deutschland und fühlen uns sicher. Ich bin im Großen und Ganzen glücklich hier, nur manchmal habe ich Angst, weil es Menschen gibt, die mir „Scheiß-Ausländer“ nachrufen. (…) Das erste und schlimmste Erlebnis aber war, dass ein Mann meinen kleinen Bruder vor ein Auto schubste und ich die Polizei nicht rufen konnte, weil ich kein Deutsch sprach. Niemand hat uns damals geholfen!“

Oftmals dreht es sich bei den Geschichten der Geflüchteten, die im Buch ihre Erfahrungen reflektierten, um islamophobe Angriffe, um ein rauer werdendes Klima, welches dem Motto der Interkulturellen Woche diametral entgegen steht. Die Autorin Asmaa berichtet von folgenden Erfahrungen in Jena:

„Der Fremdenhass wächst und das macht mir Angst. (…) Einmal hat mir im Wartebereich des Jobcenters eine unfreundliche Frau mein Kopftuch heruntergerissen, dabei schrie sie, das Kopftuch gehöre nicht nach Deutschland und ich solle in mein Heimatland zurück kehren, hier hätte ich nichts verloren.“

Dennoch bleibt die Zuversicht – auch bei Asmaa:

 „Für mich ist Heimat der Ort, wo Menschen mich verstehen, und die habe ich in Jena gefunden, darüber bin ich sehr froh. (…) Alles in allem: Jena ist zu meiner zweiten Heimat geworden. Wir leben nun seit vier Jahren hier. Viele Menschen sind bemüht, auf unsere Gewohnheiten und Bräuche Rücksicht zu nehmen, andere meinen, wir müssten uns assimilieren. Die Lösung liegt in der Mitte, finde ich. Ich grüße mittlerweile mit Handschlag, obwohl ich Muslima bin, weil man sich hier die Hand als Zeichen von Respekt und Freundlichkeit gibt. Ich habe viele Deutsche in mein Herz geschlossen. Natürlich fehlt mir mein Land, meine Familie. Die Stimme des Muezzins fünf Mal am Tag, der zum Gebet ruft. Das Meer, an dem Latakia liegt. Manchmal denke ich an die Zeit zurück, als ich hier ankam, als ich nichts verstand und als mir alles fremd war. Das hat sich geändert. Mir würde das Herz brechen, wenn ich hier wieder fort müsste!“

Vorstellung der Broschüre Hoffnung im Stadtteilzentrum LISA
Vorstellung der Broschüre Hoffnung im Stadtteilzentrum LISA ©JenaKultur

Fremde Heimat: Wer gehört dazu?

Am 03.10.20 wurde der Gedichtband „Haymatlos“ vorgestellt, welcher 2018 in der Edition Assemblage erschien. Auch diese Veranstaltung der Interkulturellen Woche fragte nach Herkunft und dem subjektiven Heimatgefühl. In der Lyriksammlung geht es Autor*innen mit Migrationshintergrund darum, die Frage nach „ihrer Heimat“ zu stellen und Perspektiven aufzuzeigen, denen sonst wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. In Zusammenarbeit mit dem Kunstverein Jena e. V. wurde erkundet, welche Grenzen, Brüche und (Miss-)Verständnisse die Diskussion um „unsere Heimat Deutschland“ hat und wer eigentlich dazu gehört.

„Haymatlos“ ist ein Gedichtband, der Biografien, Emotionen und Geschichten aus verschiedenen Perspektiven vereint. Die Dichter*innen machen so Rassismuserfahrungen, Migrations- und Familiengeschichten und Sehnsucht nach „Normalität“ öffentlich. Zu Gast waren die Autorinnen Özlem Özgül Dündar, Nadire Y. Biskin und der Herausgeber Tamer Düzyol. Düzyol organisierte gemeinsam mit Taudy Pathmanathan ab 2016 unter dem Namen „KANAKISTAN“ Veranstaltungsreihen, um (post)migrantische Perspektiven in das Herz Thüringens zu tragen und diese sichtbar zu machen.

Die dritte Lesung mit der Autorin Olivia Wenzel musste krankheitsbedingt leider verschoben werden. (Ein neuer Termin wird noch bekannt gegeben.) In ihrem Debütroman „1000 Serpentinen Angst“ (S. Fischer Verlage, 2020) schreibt die gebürtige Weimarerin Olivia Wenzel über Herkunft und Verlust, über das Leben als schwarze Frau in Deutschland und über die Suche nach der eigenen Identität. Mit ihrem stilistisch anspruchsvollen, spannenden Erstlingswerk gelang der studierten Kulturwissenschaftlerin und Theaterfrau sogar die Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2020. Wenzels Protagonistin schwankt zwischen ihrer Kindheit, dem Leben ihrer Mutter in der DDR und der Beziehung zu ihrer Großmutter sowie der Trauer um den Tod ihres Zwillingsbruders. Sie beschreibt auf unterhaltsame und aufwühlende Weise ihr Leben und Fühlen in einer strukturell rassistischen Umgebung und gibt so einen Blick in den Alltag vieler People of Color in Deutschland.

Die Veranstaltungen der Bücherei wurden von der Kulturstiftung des Bundes im Programm „360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft“ gefördert. Die Ernst-Abbe-Bücherei will allen in Jena lebenden Menschen Zugänge zur kulturellen Infrastruktur ermöglichen, sich für vielfältige Bedürfnisse öffnen, kreativ neue Perspektiven gewinnen und eine barrierefreie Kommunikation über (vermeintliche) Grenzen hinweg leisten.

Mit dem Programm „360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft“ unterstützt die Kulturstiftung des Bundes Kulturinstitutionen dabei, sich intensiver mit Migration und kultureller Vielfalt auseinanderzusetzen und neue Zugänge und Sichtbarkeiten für Gruppen der Gesellschaft zu schaffen, die bislang nicht angemessen erreicht wurden. Das Modellprogramm fördert zu diesem Zweck eine Vielfalt von Ansätzen, die auf die diversitätsbezogene Öffnung in den Bereichen Programm, Publikum und Personal zielen.

Mehr Informationen unter: www.360-fonds.de  

Gefördert im Programm:

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