Sie steht vor dem Abgrund.
Das kulturelle Leben stand in den vergangenen Monaten weitestgehend auf einem Abstellgleis und wird auch jetzt nur schwer wieder Fahrt aufnehmen können. Ein besonders erhöhtes Verbreitungsrisiko des Corona-Virus, aber auch das geflügelte Wort „Systemrelevanz“ treffen den kulturellen Zweig in dieser Ausnahmezeit besonders hart. Während vielerorts so langsam wieder auf Normalbetrieb geschaltet werden kann, liegt dieser bei den Clubs und Kulturinstitutionen noch in weiter Ferne. Sollte dieses ferne Ziel dann doch endlich erreicht sein, stellt sich die unheimliche Frage, ob es diesen Club oder diese Kultureinrichtung überhaupt noch gibt.
Um ein starkes Zeichen zu setzen, wurde die Aktion Abgrund 150 ins Leben gerufen. Sie soll aufrütteln, erstaunen, nachdenklich machen und bewegen.
Kultur als Antriebskraft der Gesellschaft
Kultur ist nicht nur der Klecks Sahne, mit dem unser Leben ein größerer Genuss werden soll. Sie ist ein wichtiger Lebensnerv für uns, unsere Stadt und die vielen anderen Städte und Gemeinden. Sie ebnet die kreative und kritische Auseinandersetzung unserer Gesellschaft mit dem was war, was ist und dem, was vor uns liegt. Kulturelle Lebendigkeit und Unterhaltung bringen uns Menschen zusammen, lassen uns erleben, teilen und erinnern.
Eines wird also schmerzlich spürbar: Ohne Kultur möchten wir nicht leben. Wir vermissen sie und zeigen das auf verschiedensten Wegen: Die Balkone verwandeln sich in kleine Bühnen für musikalische Botschaften, die durch die ganze Stadt fliegen, Künstler stellen aufwendig vorbereitete Live-Streams zur Verfügung, Autokinos sprießen aus dem Boden, es wird online gemeinsam musiziert und ausgetauscht. Diese tröstlichen Alternativen sind jedoch nicht mit dem echten gemeinsamen Erleben von Live-Konzerten, Slams, Lesungen, Diskussionsrunden und Clubabenden in feuchtfröhlicher Stimmung vergleichbar, können es auch nicht dauerhaft ersetzen.
Es ist traurig. Aber so sieht die Wahrheit nun mal aus:
Der Schutz unserer Mitmenschen hat nach wie vor eine hohe Priorität. Wie gestaltet man also eine Veranstaltung, bei der die Gäste im empfohlenen und notwendigen Abstand von 1,50 Meter zusammenkommen? Aus mehreren Perspektiven scheint ein solches Szenario undenkbar. Die Atmosphäre und Stimmung wären nicht dieselbe, die Veranstalter hätten einen immensen Aufwand zur Einhaltung der Infektionsschutzmaßnahmen, könnten aufgrund der geringen Kapazität nur einen Bruchteil der üblichen Tickets verkaufen, müssten Eintrittspreise stark erhöhen und stünden dann immer noch vor einer großen wirtschaftlichen Unsicherheit. Kurz gesagt: Auf diese Weise ist es schlicht nicht möglich, zu veranstalten. Zu überleben.
Die vielen Akteure der Kulturwirtschaft stehen 1,50 Meter vor dem Abgrund.
Der Wahrheit direkt ins Auge sehen
Die Stimmen der hiesigen Clubs und Kultureinrichtungen müssen gehört werden. Einzeln wird das schwierig und in der Wirkung viel zu leise. Wir möchten die Stimmen bündeln und dadurch lauter werden lassen. Zusammen mit der Initiative ZWO20, JenaKultur, den Clubbesitzern und der Fotografin Tina Peißker sind auf diese Weise starke Impressionen entstanden, die eine Veranstaltung auf Abstand eindrucksvoll demonstrieren. Die Bilder und Stimmen können auf den Social-Media-Kanälen Facebook und Instagram unter dem Namen „Abgrund 150“ in Augenschein genommen werden.
Anderthalb Meter bedeuten für uns, …
… das Trafo, dass die gewachsene Intimität zwangsläufig einen Ausschluss von Gästen zur Folge hat. Ein entsprechendes Hygienekonzept stellt uns vor große Herausforderungen und erscheint nur schwer umsetzbar.
… JenaKultur, dass wir nur einen Bruchteil unseres Publikums mit immer stärker zu subventionierenden Angeboten erreichen können. Ohne dabei die von Künstler, Publikum und Veranstalter gewünschte Qualität des Erlebnisses zu erreichen. Konzerte vor Autos, Konzerte am Bildschirm, Konzerte ohne Körperkontakt: Das ist nicht dasselbe! Lasst uns ehrlich sein. Solange Corona anhält, können wir das, was wir so lieben, einfach nicht haben.
… das F-Haus, dass wir kurz vor einem wirtschaftlichen & sozialen Totalschaden stehen. Ticketpreise müssten bei dieser Kapazität um das 10-fache steigen & Partys sowie Konzerte, wie ihr sie bei uns kennt, würden Geschichte sein.
… die Rose, weiterhin Schließung unseres Betriebs. Unsere denkmalgeschützten Räumlichkeiten bieten mit diesem Abstand keinerlei Optionen, Veranstaltungen durchzuführen.
… das Café Wagner, dass sich unsere Kultur in eine Unnahbarkeit verschiebt. Unnahbar am Erlebnis selbst, unnahbar an Momenten der Intimität und erst recht unnahbar, ein Programm anzubieten, welches sich auch wirtschaftlich trägt.
… dass wir keine Veranstaltung jedweder Art sinnvoll durchführen können. Es ist schon viel dazu gesagt und geschrieben worden und wir bleiben aktuell dabei: Ohne Impfstoff keine Party!
… den Cosmic Dawn e.V. im KuBa, dass wir neue Konzepte aufs neue Parkett bringen müssen, damit der Zug nicht ohne uns abfährt.
… den Med-Club, dass wir unsere Freizeit nicht mehr damit verbringen können, uns und anderen einen tollen Abend in einem Studentenclub mit fast 50-jähriger Tradition zu bescheren. Wir verlieren keinen Job, sondern wir und unsere Gäste verlieren ein Zuhause.
… eine riesige Sch…, nämlich sommerliche Open-Air-Konzerte ohne Atmosphäre und Stimmung. Die Ausgelassenheit und Leichtigkeit, Nähe und kulturelle Begegnung beim gemeinsamen Musikerlebnis sind unter diesen Bedingungen nicht möglich, genauso wenig wie die wirtschaftliche Produktion unseres Festivals.
Was Veranstalten mit Corona für die Jenaer Clubs und Einrichtungen konkret bedeutet, zeigt eindrücklich der Vorher-Nachher-Vergleich des Projekts Abgrund 150: