Die Aufdeckung der Verbrechensserie des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) jährt sich 2021 zum zehnten Mal. Die rechtsterroristischen Taten des Trios, das sich einst in Jena radikalisierte, förderten ein soziales Klima zutage, in dem nationalistische und rechtsradikale Tendenzen wieder Einzug in die Mitte unserer Gesellschaft und Parlamente halten konnten. Die Stadt Jena will die Verbrechen und ihre Umstände nun ausführlich und angemessen aufarbeiten und plant – unter wesentlicher kuratorischer Federfühung von JenaKultur – ein Themenjahr.
Am 4. November 2011 brannte gegen Mittag in Thüringen ein Wohnmobil. Darin fand man die Leichen von Uwe Böhnhardt (Jg. 1977) und Uwe Mundlos (Jg.1973). Die Polizei war ihnen auf der Spur gewesen, nachdem sie mutmaßlich am Morgen einen Raubüberfall auf die Wartburg-Sparkasse in Eisenach verübt hatten. Schnell wurde klar, dass es sich nicht um einen tragischen Unglücksfall, sondern um einen erweiterten Suzid handelte. Die beiden wollten sich ganz bewusst dem polizeilichen Zugriff entziehen. Wenige Stunden später am gleichen Tag brannte nämlich die Dritte im Bunde, Beate Zschäpe (Jg. 1975), die gemeinsame Zwickauer Wohnung ab, versandte Bekennervideos und war einige Tage auf der Flucht, ehe sie sich der Polizei stellte.
Dieses Trio – Zschäpe, Böhnhardt, Mundlos – ermordete zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin und verübte 43 Mordversuche sowie drei Sprengstoffanschläge (Nürnberg 1999, Köln 2001 und 2004) und 15 Raubüberfälle.
Stück für Stück offenbarte sich eine Verbrechensserie unvorstellbaren Ausmaßes. Der Strafsenat des Bundesgerichtshofs fand 2012 heraus, dass das Trio Anfang 1998 beschloss, sich „zu einer eigenständigen Gruppierung zusammenzuschließen“. Es habe sich dem gemeinsamen Ziel verschrieben, „der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland hin zu einem an der nationalsozialistischen Ideologie ausgerichteten System unterzuordnen und dieses Ziel künftig aus dem Untergrund heraus mit Waffengewalt weiterzuverfolgen“. (Butz Peters: 13 Jahre im Untergrund – eine Rekonstruktion. In: Cicero. Magazin für politische Kultur, 10. Juli 2013)
Offensichtlich geht also die Namensgebung „Nationalsozialistischer Untergrund: NSU“, als welcher das Trio bis heute fragwürdige Popularität erlangt hat, auf dieses selbst zurück und wird daher meist mit „sogenannt“ apostrophiert.
Sie kamen von hier
Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe stammten aus Jena, hatten sich hier im Stadtteil Winzerla radikalisiert und waren 1998 in den Untergrund gegangen. Und obwohl Jena über eine sehr engagierte Stadtgesellschaft verfügt, war es in Anbetracht der ungeheuerlichen Verbrechensserie so sprachlos, ja verfiel geradezu in Schockstarre, dass die Stadt einen kritischen und angemessenen Umgang mit diesem Phänomen bis heute schuldig geblieben ist.
Das soll und muss sich ändern. 2021 plant die Stadt deshalb ein Themenjahr zum Gedenken an die Opfer des NSU.
Denn die Mordserie ist ja kein singuläres Phänomen abseits des gesellschaftlichen Alltags, sondern in erschreckender Weise Speerspitze und Vorreiter eines sozialen Klimas, in dem Asylbewerberheime und Moscheen brennen, Menschen offene Ausgrenzung und Gewalt erfahren sowie der Hass auf Ankömmlinge, religiöse Minderheiten und weitere Marginalisierte sich in Parlamenten, auf den Straßen und virtuell Bahn bricht. Auch die jüngsten Entwicklungen zeigen: Rechtsterrorismus ist eine Tatsache, die nicht für sich steht, sondern in institutionellen und diskursiven Kontexten verankert ist.
So ist es in Jena hohe Zeit für ein wissenschaftlich-künstlerisches Projekt, das sich in einem Dreischritt dem Thema zuwendet.
Der Schoß ist fruchtbar noch
Unter dem Arbeitstitel „Sie kamen von hier“ finden sich für den ersten Teil die beiden Jenaer Hochschulen und zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure zusammen, um die historischen Wurzeln und die stadtgesellschaftliche sowie -politische Verantwortung in den 1980er Jahren bis zum Abtauchen des Trios zu untersuchen und auf dem Weg einer dikursiven Auseinandersetzung zu einer neuen Gedenkkultur zu gelangen.
Der zweite Teil widmet sich dem Strafprozess und den Opfern und ist als ein Beitrag des Kunstfests Weimar geplant.
Nach der Beschäftigung mit den Ursachen und den Opfern fokussiert der dritte Teil unter dem Motto „Der Schoß ist fruchtbar noch“ auf die Auswirkungen und Aktivitäten von Rechtspopulismus und -terrorismus im heutigen und zukünftigen Deutschland. Geplant ist ein dezentrales bundesweites Theaterfestival, zu dem die Theater all jener Städte beitragen, in denen der sogeannte NSU Opfer fand.
Im dramaturgisch abgesteckten Rahmen eines dreiwöchigen Zeitraums im Oktober/November 2021 finden bundesweit themenbezogene Premieren statt, flankiert von einer multilokalen Eröffnung und einem gemeinsam erarbeiteten Rahmenprogramm.
Die Struktur des Gesamtprojektes dient also entlang der zeitlichen und räumlichen Entwicklung der historischen Ereignisse einer besseren Groborientierung des Publikums und soll Dimensionen und Folgen von lokaler Verantwortung in ihren überregionalen Auswirkungen verdeutlichen. All das soll in Bezug auf Gegenwart und Zukunft natürlich präventive Potentiale entfalten.
Nicht zuletzt deswegen und auch wegen aktueller rechtspopulistischer Tendenzen in unserer Gesellschaft hält JenaKultur das Projekt für so essentiell, dass sich der Eigenbetrieb entschlossen hat, sowohl den Botho-Graef-Kunstpreis als auch den Jakob-Michael-Reinhold-Lenz-Preis für Dramatik der Stadt Jena 2021 sehr politisch zu denken und in das Themenjahr zu integrieren. So sollen im Rahmen zweier unterschiedlicher künstlerischer Wettbewerbe ein dezentrales Denkmal für die Opfer des NSU und eine ortsbezogene Theaterarbeit in Winzerla und Lobeda entstehen.
Die ausführliche Beschreibung des Projekts können Sie hier lesen:
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