Der 13. Tag der Stadtgeschichte steht in diesem Jahr unter dem Motto „schule vor Ort“. Damit verbindet sich ein Rückblick auf die Jenaer Schullandschaft vor einhundert Jahren, aber vor allem die Möglichkeit, mit Schulakteuren von heute ins Gespräch zu kommen.
Am Samstag, 8. Juni 2024, bietet der Stadtgeschichtstag wieder Diskussionsrunden und Multi-Media-Präsentationen, aber auch neue Programmelemente, so die Auswertung des von JenaKultur Ende letzten Jahres unter Jenas Schüler:innen ausgerufenen Podcast-Wettbewerbs, Stand-up-Comedy, eine Abi-Band und die Vorstellung eines gerade veröffentlichten Sammelbandes über die jüngere Schulgeschichte der Stadt.
Gewöhnlich wird in bildungshistorischen Überblicksdarstellungen der Schulstandort Jena in erster Linie im Kontext der Volkshochschul-Bewegung und der Eröffnung der Universitätsschule Jena durch den Erziehungswissenschaftler Peter Petersen im Jahre 1924 erwähnt, woran natürlich auch auf dem diesjährigen Stadtgeschichtstag erinnert werden soll.
Fast vergessen ist hingegen, dass zu dieser Zeit neben Berlin die Saalestadt eines der Zentren der Montessori-Bewegung im Deutschen Reich gewesen ist. Bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg begann hier eine Gruppe der – wie es damals hieß – Kleinkinderbewahranstalt des Haupt-Frauenvereins Jena Elemente der Pädagogik von Maria Montessori aufzugreifen.
Auf Initiative der 1911 im Ziegenhainer Tal begründeten Heimstätten-Genossenschaft eröffnete im September 1923 in dieser fast ausschließlich von Arbeiterfamilien bewohnten Siedlung ein Montessori-Kinderhaus für Vorschulkinder. Vor dem Hintergrund der Lehrerausbildung kooperierte diese Einrichtung mit dem pädagogischen Universitätsseminar und wurde zudem von der Stadt Jena bezuschusst. Im Juni des folgenden Jahres konnte in der Schillerschule, einer öffentlichen Volksschule am Wenigenjenaer Platz, eine Montessori-Grundschulklasse nach immensen Startschwierigkeiten mit anfangs 13 Mädchen und Jungen eingerichtet werden. Es handelte sich um die erste Montessori-schule im Deutschen Reich überhaupt.
Elfriede Glückselig übernahm bis 1928 deren Leitung, eine ungemein engagierte Lehrerin. Vordem hatte sie an einer jüdischen Knabenschule unterrichtet und den für ihre neue Anstellung obligatorischen Kurs bei Maria Montessori in Italien absolviert. 1938 musste diese Vorreiterin der Reformpädagogik in die USA emigrieren.
Einen anderen Typus von Reformschulpädagogin verkörperte die Lehrerin und Erziehungswissenschaftlerin Anna Siemsen, die im Oktober 1923 ihre Stelle als Oberstudienrätin im Thüringischen Staatsdienst und Leiterin des Lyzeums mit Studienanstalt in der heutigen Integrierten Gesamtschule „Grete Unrein“ antrat.
Anna Siemsen vertrat die schulpolitischen Kernforderungen des prorepublikanischen Bundes entschiedener Schulreformer um den streitbaren Pädagogen Paul Oestreich. Demnach bekannte sie sich beim Aufbau der „Neuen schule“ zu den Grundprinzipien Einheitlichkeit – Weltlichkeit – Unentgeltlichkeit. Strukturell stand diesen Schulreformern eine sogenannte differenzierte Einheitsschule mit durchgängig koedukativem Unterricht vor Augen, die allerdings mit dem uns heute geläufigen Begriff der Gemeinschaftsschule treffender zu umschreiben gewesen wäre.
Nicht nur wegen ihrer kultursozialistischen Auffassungen blieb Anna Siemsen im Kollegium der Höheren Mädchenschule eine Außenseiterin. Da sie als leitende Schulbeamtin zugleich in eine Männerdomäne eingebrochen war, wurde sie auch als Frau offen diffamiert. Ihre Isolierung im Schulkollegium, groteske Anfeindungen aus der Elternschaft und ihre Entlassung aus dem Schuldienst deutete eine Siemsen-Biografin als charakteristisch für die Weimarer Republik: Seit Mitte der 1920er Jahre wurden reformorientierte, sozial ausgerichtete Bestrebungen durch tradierte, wieder erstarkende völkisch-nationalistische und erzkonservative Ordnungsvorstellungen zurückgedrängt. Anfang 1933 gelang es Anna Siemsen, sich in die Schweiz abzusetzen, wo sie eine Scheinehe einging, um die Staatsbürgerschaft ihres Gatten zu erlangen.
Im „heißen Herbst“ 1989 meldeten sich dagegen verschiedene Reforminitiativen unter den Jenaer Lehrkräften unüberhörbar zu Wort. Sie können ebenfalls als Wegbereiter:innen einer „Neuen schule“ angesprochen werden, gewissermaßen als die Nachfolger:innen der frühen schulreformatorischen Ansätze von 1924.
Aus diesem kleinen Kreis seien stellvertretend Barbara Wrede und Gisela John herausgehoben, weil sie schon in den späten 1980er Jahren – neben anderen Lehrkräften an der POS „Grete Unrein“ – die „Erstarrung“ im Schulsystem der DDR kritisiert haben. Entlang ihrer Berufsbiografien lässt sich wiederum die Transformation des Jenaer Schulwesens vor und nach 1989 beispielhaft erzählen, wozu mehrere Beiträge des eingangs erwähnten Schulgeschichtsband „ReformStress“ die interessierte Leserschaft einladen.
Haben Sie sich schon einmal mit der Schulreform-Bewegung in Jena auseinandergesetzt, liebe Leser:innen? Und hätten Sie gedacht, dass so viele wichtige Wegbereiter:innen in unserer Stadt gewirkt haben?
Es gibt also viel zu lernen und zu diskutieren! Seien Sie doch dabei, wenn wir uns der „schule vor Ort“ widmen:
13. Tag der Stadtgeschichte Jena
08.06.2024, 10 Uhr
Volkshaus Jena, Otto-Schott-Saal