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Künstlerische Tatsachen – JenaKultur-Blog
Allgemein Kultur in Jena Kulturförderung

Künstlerische Tatsachen

Grafisch-abstrakte Visualisierung des Projekts künstlerische Tatsachen

»Dieses Projekt überwindet Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft.«

Mit diesem Zitat von Wolfgang Tiefensee, Thüringer Minister für Wirtschaft, Wissenschaft und digitale Gesellschaft, werden wir auf der Website der künstlerischen Tatsachen begrüßt. Daran zeigt sich nicht nur die Reputation, die das Projekt mittlerweile aufbauen konnte, es trifft den Kern der Sache auch ziemlich genau.

Die Idee: Künstler:innen und Wissenschaftler:innen in einer mehrmonatigen Residency zusammenbringen, um voneinander zu lernen.
Wissenschaftliche Erkenntnisse können so mit künstlerischen Mitteln bearbeitet, der breiten Masse zugänglich gemacht und darüber neue Denkzugänge ermöglicht werden. Und umgekehrt kann künstlerisches Denken und Gestalten vielleicht auch die Wissenschaften auf neue Pfade leiten.

Das Prinzip finden wir nicht nur sehr innovativ und grenzüberschreitend, wir halten es in Zeiten von „Fake News“, Trollfabriken und Verschwörungserzählungen für einen wichtigen Beitrag, um in unserer Debattenkultur wieder zueinander zu finden.
Deshalb wollen wir Ihnen das Projekt hier etwas genauer vorstellen – und Enrique Torres, Gründer und Projektleiter der künstlerischen Tatsachen hat unsere Fragen beantwortet.

Im Sommer 2021 wurde die erste Arts & Science Residency der künstlerischen Tatsachen ausgerufen. Da befanden wir uns noch mitten in der Pandemie – hat Corona etwas mit dem Projekt zu tun? Gab es einen ausschlaggebenden Moment für die Initiierung?

Der Impuls ergab sich aus dem Team, von dem viele Mitglieder aus Jena stammen, und die in der Stadt eine kulturelle Lücke gesehen haben: Jena steht vor allem für wissenschaftliche Forschung, aber im Bereich der zeitgenössichen und Medienkunst findet man – im Gegensatz zur Nachbarin Weimar – bislang nur sehr wenige Angebote. Diese Lücke wollten wir schließen, und dabei die DNA der Wissenschaftsstadt Jena integrieren. Das schloss auch gut an mein Studium der Cross-disziplinären Strategie an der Universität Leipzig und an der Universität für angewandte Kunst in Wien an.

Das Spannende an der Vernetzung der Disziplinen ist, dass Kunst und Wissenschaft sich die Welt auf verschiedene Weisen aneignen. Kunst nutzt einen von Kreativität getragenen Schöpfungsprozess, Wissenschaft geht vor allem systematisch, kausal, ordnend vor. Beiden Erkenntnisprozessen sind also Grenzen gesetzt. So ist die Idee, das jeweils andere Herangehen kennen zu lernen, auszuprobieren und so die Erkenntnisgrenzen zu verschieben, Horizonte zu erweitern.

Der Ausgangspunkt für das Projekt war schließlich das Angebot von Florian Dossin vom TRAFO (IN’s Netz e. V.), ein Konzept für die Nutzung des TRAFO-Magazins zu entwerfen. Das Projekt wurde anfangs stark durch Corona geprägt. Dabei war die Entscheidung für das kontaktarme Format einer Künstler:innen-Residenz klar von der Pandemie bestimmt.

Auch die Art, wie das Team strukturiert war und sich von Anfang an digital aufgestellt hat, hatte sicherlich mit der Pandemie zu tun.

Erzähl doch mal was zu eurem Team – wer seid ihr und wie organisiert ihr euch? Gibt es einen Träger, der eure Arbeit stützt?

Wir sind ein freies Team, was sich zum Teil neu bildet je nach Bedarfen und Umfang der Residency. 2022 war das Team mit ca. 15 Personen sehr groß, da die Residency größer war. Dieses Jahr besteht das Kernteam aus 6 Personen: Enrique Torres, Yul Koh, Vincent Maurer, Rebecca Martínková, Philip Pastrik und Laura Hähnel. Getragen werden wir durch eine Mischfinanzierung, dieses Jahr durch JenaKultur und die Kulturstiftung Thüringen. Die letzten Jahre mehr über die Uni Jena und private Stiftungen wie die Carl-Zeiss-Stiftung.

Teilnehmende der künstlerischen Tatsachen in einem Workshop um einen runden Tisch versammelt
Die Teilnehmenden der Residency im Workshop. ©Anna Perepechai

Wenn du das große Ziel des Projekts in einem Satz zusammenfassen müsstest, wie würde der lauten?

Wir wollen den Rahmen für einen intensiven Austausch auf Augenhöhe zwischen den Disziplinen, zwischen Kunst und Wissenschaft bereitstellen.

Wie kommen die Künstler:innen und Wissenschaftler:innen zusammen? Gibt es bestimmte Vorgaben, die ihr bei der Auswahl macht, z.B. nach Arbeitsgebieten, Forschungszweigen, früheren Werken?

Wir justieren in jedem Jahr unser Match Making. In der Regel läuft das so, dass wir mit interessierten Forschungsinstituten in Kontakt treten, einen Checkup machen, ob die Zusammenarbeit passt, dann Einladungen an Künstler:innen versenden oder einen Open Call in den entsprechenden Communities streuen.

Dann folgt ein Auswahlverfahren aus fünf Schritten: 

  1. Verfügbarkeit und Zeitraum
  2. Produktion & Material
  3. Wissenschaftliches Pairing
  4. Künstlerische Methode
  5. Inklusion & Diversität

In den letzten drei Jahren sind anhand dieser Kriterien 5 Künstler:innen nach Jena eingeladen worden. Dabei war uns wichtig, dass auch immer 1-2 regionale Vertreter:innen zum Projekt kommen.
In diesem Jahr werden es aus Kapazitätsgründen 4 Künstler:innen sein.

In Jena ist eine Vielzahl an Forschungsinstituten und wissenschaftlichen Einrichtungen ansässig, an Kooperationspartnern aus dieser Richtung sollte es also nicht fehlen – oder wird so ein Projekt dann doch erstmal argwöhnisch beurteilt?

Wir sind seit dem ersten Jahr auf großes Interesse gestoßen. Natürlich gibt es dann innerhalb der Institute verschieden stark involvierte Personen. Wir merken aber auch, dass es durchaus Unterschiede im Engagement der verschiedenen Institute gibt, das liegt aber nicht unbedingt an mangelndem Interesse – manchmal sind es einfach personelle Engpässe.
Ein fruchtbarer Austausch kann aber schon mit einer interessierten Person im Forschungsteam zustande kommen. Sobald der/die Künstler:in dann in Jena ist, bilden sich sowieso unvorhersehbare Verknüpfungen.

Zwei Wissenschaftlerinnen betrachten Flüssigkeiten in kleinen Dosen
Ein fruchtbarer Austausch für beide Disziplinen – Kunst und Wissenschaft. ©Anna Perepechai

Wie darf man sich die Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft vorstellen? Wird da ein konkretes Projektziel vorgegeben, gibt es einen thematischen Schwerpunkt? Werden die Teilnehmenden in festgelegte Partnerschaften strukturiert, oder kommen alle zusammen und man schaut, wohin die Reise geht?

Ausgangspunkt sind die aktuellen Forschungen in den Instituten. Diese stellen Datensätze in Form von wissenschaftlichen Modellen, Zeichnungen, Bild- und Videomaterialien oder Papern zur Verfügung, anhand derer sich die Künstler:innen in die Theorie einarbeiten können. Daran wird die thematische Zuordnung festgelegt.

Das Team, die Datensätze und das entsprechende Forschungsfeld bieten also den Rahmen, innerhalb dessen sich der/die Künstler:in im Sommer bewegt. Dabei sind die Werke manchmal eher datengetrieben und manchmal philosophischer.
Wir versuchen, bei der Auswahl und Erstellung der Paarungen darauf zu achten, dass entsprechende Erwartungshaltungen erfüllt werden; sobald die Auswahl der teilnehmenden Personen aber getroffen ist, treten wir bewusst zurück und unterstützen die Künstler:innen bei ihrer Forschung. Sollten die Institute Erwartungshaltungen haben, was etwa die Wissenschaftskommunikation angeht, so handeln wir das als Projektteam mit ihnen aus und bieten hier verschiedene Modelle an, um die Erwartungen an die Künstler:in zu entlasten.

Im Laufe der Residenz besuchen die Künstler:innen die Labore, beoachten die Prozesse, verfolgen Erkenntnisse und stellen natürlich auch Fragen an die Wissenschaft. Eben dieser Dialog entwickelt und erweitert den künstlerischen Prozess, und vertieft auf der anderen Seite auch die wissenschaftliche Forschung.
Andersherum haben auch die Wissenschaftler:innen „Ateliertermine“ und verfolgen das künstlerische Schaffen, geben Input und sind so direkt in die Werkgenese involviert.

Zusätzlich gibt es noch eine dritte, übergeordnete Ebene im Projekt: das Team der künstlerischen Tatsachen begleitet die Residency dokumentarisch. Mit Interviews und Gruppendiskussionen verfolgen wir den Dialog zwischen den Disziplinen in einer Art Sozialforschung.
Wir verstehen künstlerische Forschung als eine Art der qualitativen Grundlagenforschung. In unserer Residency entwickeln die Künstler:innen anhand von Datensätzen, Modellen, Bild- oder Videomaterial kreative Forschungsansätze und lassen diese in die Entstehung ihrer Kunstwerke einfließen. Im Rahmen des Projekts versuchen wir zu verstehen, wie genau dieser Forschungsprozess bei Künstler:innen abläuft, und verwenden dafür die Methodologie der Grounded Theory. Dabei tasten wir uns, ähnlich wie die Künstler:innen, den Daten und Prozessen zur Inspiration folgend, am Material des Projekts entlang. Interviews, Gruppendiskussionen und die Analyse der Werke selbst fließen in unsere Grounded Theory der künstlerischen Forschung ein. Mehr dazu gibt es im Artikel „Wissenschaft als Kunst – Kunst als Wissenschaft“ zu unserem Projekt.

Kunst ist, wie schon Schleiermacher bemerkte, eine Form der Wissensvermittlung: „Die Kunstlehre in der Kunst muß Wissenschaft, das Verfahren in der Wissenschaft muß Kunst geworden sein.“ (Schleiermacher 1822: 418)

Aus: Tabea Lamberti, Wissenschaft als Kunst – Kunst als Wissenschaft
Kunstobjekt aus roten Kisten
Die Kunst, die in der Residency besteht, setzt sich mit wissenschaftlicher Methodik und Erkenntnis auseinander. Monika Dorniak: Pikaia’s Ossature (2022) ©Anna Perepechai

Was kommt von den Teilnehmenden – sowohl aus Kunst als auch Wissenschaft – an Feedback, was nehmen sie aus dem Projekt mit?

Überwiegend gut, je näher man zusammen gearbeitet hat, desto mehr erkennt man die Anekdoten des Austausches. Desto mehr scheinen die Diskussionen durch. Es ist interessant zu sehen, dass die Einführung oft in beide Richtungen geht, die meisten Wissenschaftler:innen erhalten so einen Einblick in zeitgenössische Kunstproduktion und Praktiken, und Künstler:innen einen Einblick in die Forschung und den Alltag der Institute und Labore. Viele Paare bleiben nach kT weiter freundschaftlich im Austausch – es eint sie das geteilte Interesse an einem Thema aus verschiedenen Blickwinkeln.

Am Ende der Residenz werden die entstandenen Arbeiten dann in einer Ausstellung vorgestellt. Was für Werke entstehen denn da, wie kann man sich das vorstellen? Hast du ein Beispiel aus den vergangenen Jahren, aus dem das Besondere hervorgeht, dass das Projekt einbringt?

Das Besondere, dass das Projekt hervorbringt, ist, dass durch die dialogische, interdisziplinäre Zusammenarbeit ganz unerwartete und innovative Ansätze entstehen, die für beide Seiten anregend sind.

Ein gutes Beispiel ist eine Arbeit, die 2021 aus einer Kooperation zwischen der Künstlerin Andrea Garcia Vasquez und Pooja Metha vom Max Planck Institut für chemische Ökologie entstanden ist. In der Zusammenarbeit haben sich Wissenschaftlerin und Künstlerin den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Mensch und Pflanze gewidmet. In der entstandenen Arbeit The Invisible Colony hat Vasquez den Fusarium-Pilz mit mikroskopischen Aufnahmen auf Textil sichtbar gemacht. Auf diese Weise macht das Kunstwerk wissenschaftliche Erkenntnisse für das menschliche Auge erkennbar.

Kunstwerk aus dunklem Textil, das einen mikroskopischen Pilz verbildlicht
Andrea Garcia Vasquez: The Invisible Colony, 2021. ©Leonie Lindl

Die künstlerischen Tatsachen gehen 2024 weiter, ihr habt gerade einen Open Call beendet, um sich für die Residenz zu bewerben. Wie war die Resonanz, würdest du sagen, ihr seid als Projekt bereits etabliert? Sicher wird es wieder eine Ausstellung geben, ist auch ein Begleit- oder Vermittlungsprogramm geplant?

Die Resonanz dieses Jahr war überwältigend. Wir haben mit knapp 120 Einreichungen aus 25 Ländern einen Rekord erzielt. Daraus vier Künstler:innen auszuwählen, war gar nicht so einfach. Nach unserem Auswahlprozess haben wir nun mit Tim Shaw (UK), Mary Maggie (US), Lotta Stöver (DE) und Eugénie Desmedt (FR) eine super Auswahl und freuen uns auf den Beginn am 17.07.2024. Es wird dieses Jahr ein kleines Begleit- und Vermittlungsprogramm geben. Haltet eure Augen offen!


Die Frucht des Austauschs zwischen Kunst und Wissenschaft dürfen Sie, liebe Leser:innen also bald wieder im TRAFO Jena begutachten. Hier sind bereits die ersten Termine für das Programm der diesjährigen Residenz:

Auftakt Event TRAFO Jena: 17.07.2024, 18-22 Uhr
Soft Opening, Performances, Short Residency: 31.08.2024
Vernissage, Long Residency, TRAFO Jena: 14.09.2024
 

Waren Sie in den vergangenen Jahren schon dort? Wie finden Sie die Projektidee und -umsetzung der künstlerischen Tatsachen? Und in welchen Bereichen würden Sie sich so eine Zusammenarbeit noch wünschen?

Wir freuen uns wie immer auf Ihr Feedback in den Kommentaren!

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