News // 11.04.2022
“Ein pfeiferauchender Kulturmensch”
Ohne Norbert Reif gäbe es in Jena keine Kulturarena. Dieser Satz muss am Anfang stehen, denn er ist gültig. Trotz Konjunktiv. Es werden weitere Sätze folgen und nicht jeder davon kann allgemeine Gültigkeit beanspruchen, beruhen sie doch auf Pressezeugnissen, auf persönlichen Erinnerungen, subjektiv gefärbt und wiedergegeben in Gesprächen 20 bis 30 Jahre später, gesammelt von einem, der nicht dabei war. Aber wie man es auch dreht und wendet: Ohne Norbert Reif gäbe es in Jena keine Kulturarena. Mindestens das.
Mit dem Festival auf dem Theatervorplatz verwirklichte Norbert Reif seine Idee von einem “[...] Kulturspektakel, das für die neuen Bundesländer wegweisend sein könnte. [...] Gesetzt wird auf musikalische Qualität, die Entdeckungsfreude der Jenenser Bevölkerung und konzeptionelle Geschlossenheit.”, wie er im Vorwort zum Programmheft der ersten Ausgabe schrieb. Kritische Stimmen prophezeiten einen Reinfall – ungeeigneter Ort, viele unbekannte Namen und dann auch noch mitten im Sommerloch, wenn die meisten Studierenden nicht in der Stadt sind – das konnte doch gar nicht gut gehen. Ging es aber. Mit 8000 Gästen, durchschnittlich 400 pro Veranstaltung, übertraf die erste Kulturarena 1992 alle Erwartungen. In der TLZ war damals zu lesen “[...] Kultur-Jena [ist] um eine Erfahrung reicher, die umso schwerer wiegt, als dieser Erfolg Optimismus wachsen läßt, der beispielgebend sein könnte.”
Aus dem Nichts etwas aufbauen, mit den vorhandenen Mitteln und einer klaren Idee arbeiten, sich gegenseitig Mut machen und motivieren – in Reifs Biografie finden sich diese Elemente immer wieder. Ebenso wie die Idee, mit Kultur einen Mehrwert zu schaffen, den man nicht in eine Bilanzbuchhaltung aufnehmen kann. KULTUR FÜR ALLE. Wenn es seinen Slogan braucht, dann vielleicht diesen.
Mit der Kulturarena ist es ihm gelungen, diese Vorstellungen in einem wiederkehrenden Format zu verwirklichen, das sich über die Jahre nicht nur fest im Veranstaltungskalender der Region und darüber hinaus etablierte, sondern beständig weiter wuchs und noch heute, über zwanzig Jahre nach seinem Tod, die Innenstadt Jenas Sommer für Sommer belebt.
Die Verdienste Reifs für das kulturelle Leben der Stadt Jena gehen über die Kulturarena hinaus, die Anfänge seines Wirkens liegen jedoch etwa 150 Kilometer nordwestlich.
Geboren wurde Reif 1946 in Kassel. Er entstammte einfachen Verhältnissen, die Eltern waren im Elektromotorenwerk Bitter & Co angestellt – er als Dreher, sie als Wicklerin. Working class würde man heute sagen. Auch Sohn Norbert erlernte zunächst den Beruf des Werkzeugmachers. Als er später mit seiner Mutter eine Kantine in der Nähe der Kunsthochschule betreute, kam er in Kontakt mit künstlerischen und akademischen Kreisen, studierte Sozialpädagogik und gründete in Kassel die erste 68er-Kommune.
In den späten 70er Jahren wirkte er beim “Projekt Reitstall” mit. Diese Initiative wollte ein Kulturzentrum in der Kasseler Nordstadt erstreiten, ein Arbeiterstadtteil, in dem bis heute viele verschiedene Nationalitäten beheimatet sind. Es sollten Bildungs- und Kulturangebote geschaffen werden, die den Interessen und Bedürfnissen der Menschen vor Ort entsprachen, Vielfalt abbildeten und interkulturelle Verständigung förderten.
Mit kreativen Aktionen versuchte die Gruppe Aufmerksamkeit und Gehör für das eigene Anliegen zu schaffen, wohl ein Grund dafür, dass Reif in seiner späteren Funktion als Kulturamtsleiter in Jena immer wieder Verständnis und Sympathie für Einrichtungen wie das Kassablanca aufbrachte und deren kreative und zum Teil lautstarke Bemühungen, eine dauerhafte Bleibe zu finden, stets goutierte.
Zum Jahreswechsel 1976/1977 stemmte die Initiative gemeinschaftlich eine Großveranstaltung mit dem erst kurz zuvor aus der DDR ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann. Aus Ermangelung eines geeigneten Veranstaltungsortes richtete man kurzerhand binnen weniger Wochen in einem Kraftakt eine Halle der ehemaligen Henschel-Werke her. Elektrik, Beleuchtung, Toiletten, Heizung, Notausgänge – die Liste der Hürden, die der Gruppe zum Teil von Kasseler Ämtern auferlegt worden sind, schien nahezu endlos. Improvisationstalent war gefragt, gemeinschaftliches Arbeiten und das nötige Durchhaltevermögen – Tugenden, die Reifs späteren Arbeitsstil in der Kulturarena prägen sollten. Das Konzert gelang und später fand die Initiative im ehemaligen Schlachthof eine ständige Bleibe.
Reif zog jedoch weiter, nach Bremen, um dort ein vertiefendes Studium der Erwachsenenbildung mit kulturellem Schwerpunkt aufzunehmen, bevor er Ende der 1980er Jahre nach Kassel zurückkehrte. Ans Kulturamt. Dort begegnete er der Kulturarbeit von der anderen Seite und dort begann die gemeinsame Arbeit mit Lutz Engelhardt, die wenig später auch in Jena Früchte tragen sollte.
1991 erfolgte schließlich der Ruf von Klaus Hattenbach, damals Kulturdezernent der Stadt Jena, der Reif als Kulturamtsleiter einstellte. In Jena galt es nach Jahrzehnten sozialistischer Kulturpolitik neue Strukturen zu schaffen und Ideen und Prozesse anzustoßen. Reif kam nicht als “Besserwessi”, der sich mit viel Schein und großen Worten profilierte und allen seine Ideen aufzwang, sondern mit Erfahrung auf der einen und viel Neugier auf der anderen Seite. Schnell baute er sich ein Netzwerk auf, engagierte sich für bestehende Institutionen wie die Philharmonie ebenso wie für das neu gegründete Kassablanca. Dabei bewies Reif immer wieder, dass er es verstand, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. “Wir haben nie einen Dolmetscher gebraucht, trotz der unterschiedlichen Positionen”, beschreibt Alf Heinecke vom Kassablanca rückblickend das Verhältnis. Praktische Hilfe leistete Reif beispielsweise indem er für Heinecke und Kollegen eine Fahrt nach Tübingen organisierte, damit sie sich die Arbeit in verschiedenen Kulturzentren hautnah anschauen konnten. Besonders ist Heinecke jedoch die moralische Unterstützung des Kulturamtsleiters in Erinnerung geblieben, der sie immer wieder ermutigte, weiterzumachen, sich kreativ und zuversichtlich den Problemen zu stellen. “Kulturförderung ist viel mehr als Geld ausgeben. Es ist wichtig, Menschen mit Ideen zu unterstützen, damit sie zeigen können, wer sie sind und was sie können.”, beschreibt Dr. Margret Franz diesen Aspekt von Reifs Arbeitsweise.
Nach kurzem Anlauf holte Reif seinen Freund Lutz Engelhardt in die Saalestadt, mit der fixen Idee, ein Weltmusikfestival zu organisieren, ähnlich dem Kulturzelt in Kassel, dessen Programmleitung Engelhardt bereits inne hatte. Die Verbindungen nach Kassel ermöglichten mit bescheidenen Mitteln hochkarätige Bands nach Jena zu holen. Gleichzeitig versprach der Eintrittspreis von fünf D-Mark dem Publikum große Kultur für kleines Geld.
Da war sie wieder, die Idee von Kultur, die für alle erschwinglich und zugänglich sein sollte, die Werte vermittelt und den Horizont erweitert, den Blick richtet auf das Unbekannte, Vorurteile und Schranken abbaut, indem sie die Sinne berührt. Ohne erhobenen Zeigefinger. Wie schon zu Zeiten der Reitstall Initiative wurde angepackt, hier und da improvisiert und die Brache vor dem Theaterhaus kurzerhand in ein Konzertareal verwandelt. Viele Helfende betraten mit der Arbeit am Festival Neuland, doch Reif verstand es, Menschen zu begeistern, schenkte ihnen Zutrauen und ließ sie so über ihre selbst vermuteten Grenzen hinauswachsen. Dabei war sich der Kulturamtsleiter nie zu schade, selbst mit anzupacken. Thomas Adapoe, der die Kulturarena mit seiner Technikfirma seit Jahr und Tag betreut, fasst es in ein einfaches Bild: “Da fährt der Kulturamtsleiter privat los und holt Pizza für alle Helfer, die gerade darum kämpfen, die Bühne nach dem Regen wasserfrei zu bekommen.” Reif lag das Wohl aller Beteiligten am Herzen und er zeigte sich in der Kulturarena permanent für alle Belange ansprechbar.
Bevor die Show begann, ließ es sich der Kulturamtsleiter nicht nehmen, jedes einzelne Konzert persönlich auf der Bühne anzukündigen. Auch das war Norbert Reif. Einer, der wahrgenommen werden wollte, der sich stets elegant kleidete, extrovertiert war und der, wenn es ihm nötig schien, das direkte und offene Wort wählte. Ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten.
Wenn auf der Arena-Bühne die Lichter ausgingen, war meist noch nicht Schluss. Reif lud gern in seine Wohnung ein, an seinen großen Esstisch, liebte es, Gastgeber zu sein, Menschen um sich zu haben und zusammenzubringen. Passend dazu war er ein begnadeter und leidenschaftlicher Koch. Freunde beschreiben ihn zudem als einen Charismatiker, der das Leben liebte, fulminant und teilweise bis zum Exzess, manchmal am Rande seiner Verhältnisse, von einem Projekt ins nächste – ein Ferienhaus in Italien, der Bahnhof in Bürgel. Vielleicht kein Lebensstil, der den Erwartungen aller an einen Kulturamtsleiter entsprach.
Im Herbst des Jahres 1999 nahm Reifs Arbeit ein jähes Ende. Ein brennender Papierkorb, ein Einbruch ins Büro des Kulturamtsleiters, Drohanrufe. Die Vorgänge lesen sich heute wie eine bittere Posse – zu groß für eine Stadt wie Jena. Plötzlich wird Reif die fristlose Kündigung ausgesprochen wegen persönlicher Bereicherung. Konkret ging es um eine private Italienfahrt mit einem Dienstwagen, bei der sich Reif auf mündliche Absprachen berief, und die Entwendung von Stühlen aus den Beständen des Theaterhauses, die Reif vehement bestritt. Einen weiteren Vorwurf um ein falsch abgerechnetes Dienstessen konnte Reif entkräften. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass es bereits zuvor einen Prozess wegen der Vergabe von Übernachtungen im Zusammenhang mit der Kulturarena gegeben hat. Besagte Stühle wurden nie wieder gesehen.
Reif ging gerichtlich gegen die Kündigung vor, wollte rehabilitiert werden und sein Herzensprojekt Kulturarena nicht verlieren. In der Stadt solidarisierten sich zahlreiche Menschen mit dem geschassten Kulturamtsleiter. An verschiedenen Orten lagen Unterschriftenlisten aus. In einer nächtlichen Aktion wurden mehrere A4-Plakate mit der Aufschrift “Jena ist Reif” in der Stadt geklebt. Letztlich entschied das Arbeitsgericht zu Reifs Gunsten, die fristlose Kündigung wurde in eine fristgerechte Kündigung umgewandelt. Gesundheitlich erholte sich Reif jedoch nicht. Bereits seit Mitte der 90er Jahre litt er an einem inoperablen Karzinom, das er bisher durch Medikamente in Schach halten konnte. Weggefährten berichten, dass sich sein Zustand in dieser Zeit jedoch sehr verschlechterte.
Von der ersten Kulturarena nach seiner Entlassung erlebte Reif, der als Zuschauer zu allen Veranstaltungen eingeladen war, nur das Eröffnungsspektakel. Seine fortgeschrittene Erkrankung ließ keine weiteren Besuche zu. Sein engster Kreis kümmerte sich in den letzten Monaten rund um die Uhr um ihn und seine an Alzheimer erkrankte Mutter, die er, trotz seines eigenen Zustandes, nicht aus der eigenen Obhut geben wollte.
Am 9. Oktober 2000 erlag Norbert Reif schließlich seinem Krebsleiden und wurde auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin in Jena bestattet. Etwa 200 Menschen versammelten sich nach Zeitungsangaben auf dem Jenaer Ostfriedhof, als Norbert Reif am 16. Oktober zu Klängen von Aziza Mustafa Zadeh, dem Pokrovsky Ensemble und Goran Bregovic zu Grabe getragen wurde – Künstlerinnen und Künstler, denen die Kulturarena Jena den Weg ins internationale Musikgeschäft mitbereitet hat. Lieblingsstücke Reifs.
Das Leben von Norbert Reif hinreichend zu beschreiben, scheint aussichtslos. Ruhelos sei er gewesen, bisweilen exzessiv, getrieben von der Angst, etwas zu verpassen, angetrieben von klaren Vorstellungen und Idealen. Einer, der für drei gelebt hat, wie es sein langjähriger Freund Lutz Engelhardt beschreibt.
Reifs Verdienste um die Kulturlandschaft in Jena sind unbestritten, nur manchen unbekannt. “Er hat den Provinzmief aus Jena herausgekehrt und dafür kann man ihm nur dankbar sein”, bilanziert Dr. Margret Franz, die unter Reif ihre Arbeit im Kulturamt der Stadt Jena begann.
Die Kulturarena im Herzen der Stadt ist wohl das sichtbarste Zeichen seines Schaffens. Sie lebt von der Idee, Menschen mit Kultur zu begeistern, sie auch mit Dingen zu konfrontieren, die ihnen vorher unbekannt waren, sie ihnen aber nicht aufzuzwingen, sondern ein Angebot zu machen. Erfahren und dann vielleicht neu denken.
Hinter den Kulissen, scheint er eine Arbeitsweise geprägt zu haben, die für Beteiligte bis heute den Reiz dieses Festivals ausmacht: Zusammenhalt, die Begegnung auf Augenhöhe und den Respekt für die Arbeit der anderen. Vielleicht das, was gemeint ist, wenn vom “Geist der Kulturarena” die Rede ist.
Ein besonderer Dank gilt: Thomas Adapoe, Peter Alheit, Lutz Engelhardt, Margret Franz, Alf-K. Heinecke, Kristian Philler, dem Kulturzentrum Schlachthof in Kassel (insbesondere Nora) und dem Stadtarchiv Jena (insbesondere Constanze Mann).
Dieses ergreifende Portrait wurde von Florian Ernst recherchiert und verfasst:
30 Jahre Kulturarena – gemeinsam mit Friedrich Herrmann genieße ich ein Privileg, das sonst der „Sendung mit der Maus“ vorbehalten ist und darf hinter die Kulissen blicken. Ich freue mich auf die Eindrücke und darauf, sie zu teilen.