Evelyn Meyer, verantwortlich für Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen in der Ernst-Abbe-Bücherei Jena, berichtet heute über die Erfahrungen der vergangenen Wochen, neue Formate und Ausblicke in die Zukunft.
Wie findet man sich in einer weltweiten Krise, in der sich der Alltag sowohl privat als auch beruflich von einem Tag auf den anderen völlig verändert hat, in der täglich neue beängstigende Schlagzeilen in den Medien kursieren und in der nichts mehr planbar ist, noch zurecht? Zu Beginn der Corona-Pandemie brachen plötzlich wichtige Konstanten des Alltags weg. Kinder durften nicht mehr in die Kindergärten und schulen, der Arbeitsalltag änderte sich, Kinos, Theater, Restaurants – alles hatte wochenlang geschlossen. Die Anordnung lautete: „Liebe Menschen, bleibt Zuhause!“ Was könnte in dieser Situation besser zum Abschalten geeignet sein als das Lesen von Büchern? Aber was passiert, wenn Literatur plötzlich nicht mehr so einfach zugänglich ist, weil nicht nur der lokale Buchhandel, sondern auch öffentliche Bibliotheken plötzlich geschlossen sind? Fällt das bei der Bevölkerung in Anbetracht der vielen Einschränkungen überhaupt ins Gewicht? Fehlt eine frei zugängliche Ernst-Abbe-Bücherei den Menschen?
Die coronabedingte Schließung der Bibliothek kam nicht nur für die Mitarbeiter, sondern auch für die Nutzer der EAB sehr plötzlich. Zwischen der Anordnung, dass unsere Türen vorerst geschlossen bleiben und der Schließung lagen nicht einmal 48 Stunden, so dass die Leser*innen kaum die Gelegenheit hatten, sich mit Büchern zu bevorraten. Wir spürten recht schnell, dass unsere Einrichtung und ihre Dienste von vielen Nutzern sehr vermisst wurden, was sich unter anderem an einem Plakat zeigte, das eines Morgens das Kellerfenster der EAB zierte. Auf ihm das Abbild eines Kapitäns („Käpt’n Konfetti“) und der Text „Bibliothek, Du bist das Krankenhaus meiner Seele! Öffne bitte wieder Deine Pforten, mein ‚Seemannsgarn‘ reicht nicht mehr aus…“.
Aber nicht nur die Nutzer vermissten die Bibliothek. Auch die Bibliothek vermisste ihre Nutzer. Zwar wurde die Schließzeit u. a. zum Um- und Aufräumen des Bestandes genutzt, aber die leeren Bibliotheksräume ohne stöbernde Leser an den Regalen, ohne Kinderlachen und ohne Veranstaltungen jeglicher Art haben auch uns betrübt.
Analog zum lokalen Buchhandel versuchten auch wir, die geschlossene Bibliothek durch unsere Online-Angebote etwas auszugleichen. Dazu konnte der Bestand der Onleihe in Thüringen erweitert werden, um der stark gestiegenen Nachfrage nach E-Books nachzukommen. Auch das Interesse an Zeitschriften und Zeitungen ist gestiegen, was die Zugriffszahlen auf Genios (Presseportal für Zeitungen, Fach- und Publikumszeitschriften) beweisen.
Durch einen kurzfristig abgeschlossenen Vertrag mit der Video-on-Demand-Plattform filmfriend, konnten wir den Nutzern zusätzlich eine große Filmauswahl kostenfrei zur Verfügung stellen, was auch sehr gut angenommen wurde. Die Kinderbuch-App Tigerbooks, die bisher nur wenig benutzt wurde, wurde plötzlich von vielen Eltern und Großeltern als Alternative zum Print-Kinderbuch akzeptiert und geschätzt. Überhaupt hat für uns der digitale Bestand, der bisher eher marginal war, durch die Corona-Krise eine erhebliche Bedeutungszunahme erfahren.
Um auch die Bürger*innen zu erreichen, die bis dato noch keine Nutzer*innen der Bücherei waren, hatten diese außerdem die Möglichkeit, die neuen und bestehenden Online-Angebote zu nutzen, indem sie online einen kostenfreien Schnupperausweis beantragen konnten.
In einer ersten Phase der Öffnung wurde dann ab Anfang Mai ein Bestell- und Abholservice für Medien eingerichtet. Viele Nutzer*innen waren dankbar, nun überhaupt wieder Bücher, Musik, DVDs etc. ausleihen zu können. Die meisten nutzten im Vorfeld die Recherchefunktion, aber es kam auch öfter vor, dass Kunden baten: „Suchen Sie mir einfach etwas Schönes raus.“
Seit Mitte Juni ist die Ernst-Abbe-Bücherei auch für den Publikumsverkehr geöffnet. Besucher können ihre Medien nun wieder selbst ausleihen – wenn auch nach wie vor unter Einschränkungen aufgrund der geltenden Hygienebestimmungen. Am ersten Tag der Wiedereröffnung war eine Leserin sichtlich erleichtert, wieder in die Bibliothek zu dürfen. Zu einer Mitarbeiterin sagte sie: „Bin ich froh, dass die Bücherei wieder geöffnet hat, bevor Corona mich erwischt hat.“
In den Medien war öfter (z. B. in der Süddeutschen Zeitung) zu lesen, dass Pandemie-Klassiker wie Camus‘ „Die Pest“, Roths „Nemesis“ oder Boccaccios „Decamerone“ momentan ein Revival erleben. Offensichtlich gefällt Lesern aber auch ein weniger ernsthafter Umgang mit der aktuellen Situation: Auf Platz 3 der Hardcover-Spiegel Bestsellerliste verweilt momentan der Schnellschuss aus dem Ullstein-Verlag: „Dann bleiben wir eben zu Hause!“ von Renate Bergmann. Auch unsere Leser wollen sich während der Krise lieber mit einer mehrteiligen Familiensaga, einem schönen Liebesroman, zeitgenössischer Literatur oder einem spannenden Thriller von der derzeitigen Situation ablenken. Sehr gefragt waren während der Zeit des Homeschoolings außerdem auch Lernmedien für Schulabschlüsse.
Für uns ist es nun das 3. Jahr in Folge, in dem die EAB eine wochenlange Schließzeit verkraften muss. 2018 musste die EAB aufgrund der Volkshaus-Sanierung vorübergehend nach Lobeda ziehen, 2019 erfolgte der Umzug aus dem Volkshaus in das Zwischenquartier der ehemaligen Augenklinik. Jede Schließung bedeutet für uns: weniger bis gar keine Ausleihen, keine Veranstaltungen und damit auch weniger Nutzer.
Nach dem Umzug in die Augenklinik hatten wir gerade Kontakte zu neuen Partnern geknüpft, neue Veranstaltungsformate wie der MINT-Mittwoch und die deutsch-russische Teestunde sind gut angelaufen. Immer stärker konnten wir unser Konzept von der Bibliothek als dritten Ort, das mit dem Neubau der EAB am Engelplatz noch viel mehr Möglichkeiten bekommen wird, ausbauen. Nun ist alles wieder zum Erliegen gekommen und der Status Quo ist jener, von dem wir eigentlich weg wollen: unser Kerngeschäft „Ausleihe“.
Wir sehnen nun eine dritte Phase der Öffnung herbei, in der wir wieder mehr anbieten dürfen als unser Kerngeschäft. Seit kurzem ist das Programm für den mittlerweile im 26. Jahr stattfindenden „Lesemarathon“ im Herbst fertig. Nun hoffen wir sehr, dass dieser trotz erschwerter Bedingungen auch stattfinden kann.
Wann waren Sie zuletzt in einer Bücherei? Lesen Sie lieber „echte“ Bücher oder greifen doch lieber zum E-Book? Wir freuen uns auf Ihr Feedback!