Gedenken an den 17. Juni 1953
Zum Gedenken an die Ereignisse des 17. Juni 1953 gedachten heute Interessierte, Schülerinnen und Schüler, Zeitzeugen und Vertreterinnen und Vertreter der Stadt sowie Stadtratsmitglieder am Denkmal in der Gerbergasse. Oberbürgermeister Dr. Thomas Nitzsche hielt eine Rede, die hier wiedergegeben wird:
"Die Erinnerung an den Volksaufstand am 17. Juni 1953 prägte für die folgenden Jahrzehnte das Bewusstsein dieser Stadt, nicht offiziell seitens der DDR-Regierenden, doch in der Erinnerung der Menschen.
Tausende zogen demonstrierend durch die Stadt zum Holzmarkt. Es gab Unruhen und Verwüstungen in öffentlichen Gebäuden, die erst durch den Aufmarsch sowjetischer Panzer gestoppt werden konnten. Es kam zu Verhaftungen, Alfred Diener wurde auf darauffolgenden Tag standrechtlich erschossen.
Auch wenn das DDR-Regime sich durchgesetzt hatte, so war beiden Seiten, den Menschen wie den Regierenden, klar, was möglich ist bzw. was droht, wenn die Unterdrückung zu stark wird.
Die Geschehnisse in Jena waren Teil von DDR-weiten Prozessen. Diese wiederum waren auch das Ergebnis der Block-Auseinandersetzungen nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Es ist wichtig, den Aufstand zu Beginn der 1950er Jahre global in die extrem verhärtete Lager-Konfrontation zwischen Ost und West einzuordnen, die nicht nur auf der koreanischen Halbinsel dramatisch eskalierte. Sie führte auch inmitten Europas bis dicht an die Schwelle eines Krieges, dessen Schlachtfelder ohne Zweifel die beiden deutschen Staaten gewesen wären.
Ende der 1940er Jahre scheiterten die diplomatischen Bemühungen um eine Einheit in der Frage, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssten, um mit Deutschland einen Friedensvertrag abschließen zu können. Der von den alliierten Siegermächten in Jalta und Potsdam mühsam ausgehandelte Grundkonsens im Umgang mit dem militärisch besiegten und besetzten Deutschen Reich zerbrach endgültig.
Um die Wiederaufnahme der Arbeit im Alliierten Kontrollrat zu erzwingen, blockierten sowjetische Truppen 1948 die Zugänge zu den drei westlichen Besatzungszonen Groß-Berlins, was zu einer Solidarisierung einer großen Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung mit den westalliierten Truppen und Institutionen führte, denen sie vorher vielerorts distanziert, ja als „Feindmächte“ begegnet waren.
Angesichts der unmittelbar empfundenen Bedrohung ihrer Freiheit durch „die Russen“ erschienen die westlichen Besatzer in den Augen der meisten Westdeutschen und Westberliner fortan als Schutzmächte.
Allerdings fand die von der ersten Bundesregierung unter Konrad Adenauer (CDU) betriebene Integration in den westeuropäischen Wirtschaftsraum und kurzfristig in eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft bzw. in den Nordatlantikpakt sowohl in der CDU und unter Politikern der größten Oppositionspartei SPD als auch im außerparlamentarischen Raum namhafte Kritiker. Auffällig war, dass kein Abgeordneter der Kanzlerpartei CDU-Mann Ernst Lemmer widersprach, als der in einer emphatischen Rede das Jahr 1952 „als Termin für die geschichtliche Teilung Deutschlands“ bezeichnete.
Daraus zog Lemmer die logische Konsequenz, dass den Preis für die Westintegration der Bundesrepublik die Menschen in der DDR zahlen würden.
Washington unterstützte den Kurs Adenauers. Dabei verfolgten die amerikanischen Administrationen unter den Präsidenten Truman und Eisenhower zwischen 1950 und 1953 im Herzen Europas eine Doppelstrategie. Einerseits befürworteten sie öffentlich die Wiederherstellung der deutschen Einheit durch freie Wahlen in Gesamtdeutschland; andererseits agierte die CIA auf DDR-Gebiet.
Der US-Auslandsgeheimdienst bereitete Terroranschläge vor, was seit 2013 als belegt gilt, u.a. durch Frank Döbert, der in der „Gerbergasse 18“ einen Artikel über das Einschleusen von sog. „Schläfern“ durch die CIA vor dem Hintergrund des 17. Juni veröffentlichte.
Diese „Stay behind-Gruppen“ bildeten eine paramilitärische Geheimorganisation, die Anfang 1953 DDR-weit über 550 Agenten verfügte, darunter allein acht Gruppen in Thüringen. Im Raum Jena operierte eine V-Mann-Gruppe mit dem Tarnnamen „Wiesel“. Sie sollten im Kriegsfall Sabotageakte im Hinterland der russischen Truppen verüben, bis hin zu Attentaten.
Die sowjetische Hegemonialmacht in Mittelosteuropa ließ 1952 in der DDR über eine halbe Millionen Soldaten stationieren. Im April deklarierte Stalin, auch für den Osten Deutschlands sei die „pazifistische Periode“ nunmehr beendet. Die Sowjetunion lieferte der DDR schwere Waffen und oktroyierte ihr ein ehrgeiziges Rüstungsprogramm, das auch den Bau von U-Booten und Bombenflugzeugen vorsah.
Die DDR gab für die eigene Aufrüstung und für die Besatzungs- und Stationierungskosten der russischen Truppen Anfang der fünfziger Jahre mehr als 8 % des Nationaleinkommens aus. In der Bundesrepublik Deutschland war es kaum weniger.
Die immens steigenden Kosten für die Umrüstung der Volkswirtschaft auf die Energiewirtschaft und Schwerindustrie rissen große Löcher in den Staatshaushalt der DDR. Diese sollten durch Drehen an der Steuerschraube, verdeckte Preiserhöhungen in der staatlichen Handelsorganisation HO und Senkungen des Reallohns auf die Schultern der arbeitenden Bevölkerung in Stadt und Land abgewälzt werden.
DDR-Bürgern mit Gewerbe oder Arbeitsplatz in West-Berlin sowie allen Selbstständigen und ihren Angehörigen wurden subventionierte Lebensmittelkarten entzogen. Für die Betroffenen stiegen die Ausgaben für Lebensmittel um bis zu 120 Prozent. Es handelte sich um etwa zwei Millionen Menschen, die fortan auf das verteuerte und zugleich mangelhafte Warenangebot in den HO-Läden angewiesen waren.
Die Einkommens- und Handwerkssteuer wurden erhöht und Selbstständige bzw. Freiberufler aus der allgemeinen staatlichen Krankenkasse ausgeschlossen.
Auf dem Lande wurden die wenigen verbliebenen großbäuerlichen Familienbetriebe liquidiert und begonnen, die Klein- und Mittelbauern in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften mit mehr oder weniger Zwang zusammen zu schließen. Zwischen 1952 und dem 17. Juni verließen etwa 15.000 Bauern und Landwirte die DDR.
Im Bereich des privaten Großhandels und des nichtstaatlichen Transportgewerbes kam es zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten in Höhe von 335 Millionen Mark.
Moskau blieb nicht verborgen, dass die Beschäftigten in den DDR-Betrieben über die anhaltend niedrigen Löhne bei steigenden Lebenshaltungskosten klagten und bereits seit Herbst 1952 immer wieder lokale Streiks aufflammten. Die sowjetische Führung machte der SED-Führung im April 1953 Zugeständnisse, was aber am Generalkurs der forcierten Aufrüstung wie Militarisierung der ostdeutschen Gesellschaft und der Aufstellung einer getarnten Armee nichts änderte. Denn die seit Sommer 1952 aufgestellte Kasernierte Volkspolizei verfügte im Frühsommer 1953 bereits über eine Stärke von 113.000 Mann.
In dieser angespannten Situation beschloss die SED-Führung im Mai 1953, die Arbeitsnormen in der staatseigenen Industrie um 10 % zu erhöhen. In allen für die Landesverteidigung als bedeutend angesehenen Industriezweigen sollten Leistungslöhne eingeführt werden.
Viele Arbeitskräfte befürchteten, auf diese Weise würden auf kaltem Wege wieder Akkord-Löhne eingeführt werden. Ihre Erfahrung sagte ihnen zugleich, dass aufgrund des fortwährenden Energie- und Materialmangels Produktionsstörungen an der Tagesordnung waren. Das machte jede faire Berechnung von Leistungslöhnen von vornherein zu einem illusionären Unterfangen.
Die verfehlte Lohnpolitik des Staates bildete den Zündstoff, der das Pulverfass DDR explodieren ließ. Daran konnte auch der von den Nachfolgern Stalins angeordnete Kurswechsel nichts mehr ändern. Die Abschwächung verschiedener Restriktionen und Zwangsmaßnahmen wie die Rücknahme der Normerhöhungen am 11. Juni erfolgte zu spät, um die explosive Lage noch entschärfen zu können.
Jena bildete ein Zentrum der anschwellenden Massenproteste in Thüringen. Am 17. Juni 1953 zogen Arbeiterkolonnen diszipliniert und einheitlich vom Zeiss-Südwerk und aus dem Jenaer Glaswerk in der Otto-Schott-Straße zum Holzmarkt und skandierten Sprechchöre wie: "Spitzbart, Bauch und Brille – sind nicht Volkes Wille!".
Ihre demokratischen Forderungen nach Rücktritt der SED-Regierung, freien Wahlen und der Freilassung aller politischen Gefangenen erfüllten den öffentlichen Raum. Unter Mittag sollen sich bis zu 25.000 Demonstrierende auf dem Holzmarkt aufgehalten haben.
Nach Verhängung des Ausnahmezustandes wurden mehrere hundert Demonstranten inhaftiert. Von ihnen erhielten 110 Angeklagte hohe Haftstrafen. Die Jenaer Belegschaftsvertreter Walter Scheler und Herbert Bähmisch wurden zu jeweils 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Den Schlosser Alfred Diener urteilte ein Sowjetisches Militärtribunal ohne Verteidigung im Schnellverfahren ab. Er wurde am 18. Juni 1953 in Weimar erschossen.
Die landesweiten Sozialproteste von Industriebeschäftigten, Bauern, Gewerbetreibenden und Handwerkern im Sommer 1953 rangen den kommunistischen Machthabern in Moskau wesentliche Zugeständnisse ab, um das SED-Regime stabilisieren zu können.
Die Sowjetunion verzichtete zum 1. Januar 1954 auf ihre Reparationszahlungen und gab der DDR die Sowjetischen Aktiengesellschaften zurück, die 1951 immerhin ein Viertel ihrer gesamten Industrieproduktion erwirtschafteten. Außerdem wurden die hohen Besatzungskosten gesenkt.
Daneben hat die Arbeitererhebung in den südlichen und mittleren Bezirken wie hier in Jena trotz ihrer Niederschlagung und der zahlreichen Opfer des Terrors im Nachgang des 17. Juni die Grenzen und Illegitimität der Herrschaftsverhältnisse aufgezeigt.
Es handelte sich um die erste spontane Massenerhebung gegen die Ausbeutungs- und Unterdrückungsapparate in Ostmitteleuropa, die in einigen Großbetrieben - wie dem Jenaer Glaswerk - basisdemokratische Züge annahm.
Der 17. Juni leitete im internationalen Maßstab eine Welle des Aufbegehrens von Arbeitern und Angestellten ein, die sich über Polen und Ungarn 1956, Prag 1968, die Streikbewegung an der polnischen Ostseeküste im Dez. 1970, die Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność zehn Jahre später in Gdansk bis hin zum 9. Oktober 1989 auf dem Leipziger Ring erstreckte.
Zu Recht haben Matthias Domaschk und die aufgezählten Ereignisse hier am „Denkmal an die politisch Verfolgten in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR zwischen 1945 und 1989“ eine Inschrift auf einem der symbolischen Kartons erhalten.
„All denen, deren Menschenwürde verletzt wurde, den Verfolgten, die gegen kommunistische Diktatur aufrecht für Demokratie und Menschenrechte einstanden.“ – so lautet die Inschrift auf der Metallplatte hier vor dem Denkmal.
Ich danke Ihnen, dass wir heute hier zusammengekommen sind. Es ist und bleibt wichtig, dass wir der konkreten Ereignisse hier vor Ort gedenken, der einzelnen Schicksale der Menschen, die bedingt und eingerahmt sind von Ereignissen größerer Ebene.
Der 17. Juni ist immer auch Gelegenheit, dass wir in unserem Bewusstsein bewahren, dass die demokratischen Freiheiten und rechtsstaatlichen Garantien, die wir heute genießen, nicht selbstverständlich sind.
Dass unverändert Menschen zu diesem Denkmal kommen ganz unabhängig von Gedenktagen – seien es Teilnehmende von thematischen Stadtführungen, Studiengruppen oder Angehörige oder Freunde von Opfern, die hier Blumen niederlegen oder ein ewiges Licht anzünden – zeigt, dass die Erinnerung an und die Auseinandersetzung mit der Zeit der DDR-Diktatur nicht abgeschlossen sind.
Im Gedenken an die Opfer des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 bitte ich Sie um eine gemeinsame Schweigeminute."