Seit Mai findet eine breit gefächerte, mal leise und mal lautere Auseinandersetzung mit den Opfern und den Verbrechen des sog. NSU in Jena statt. Hier wuchsen die drei Terroristen auf, hier lernten sie den Rassismus und bauten Strukturen und Netzwerke von Unterstützer:innen auf, die diese abscheulichen und vielfaches Leid erzeugenden Taten mit ermöglichten.
Wer – und das war der Titel dieser Veranstaltungsreihe – keine Schlussstriche ziehen kann und will, wird sich insbesondere um Formen und Gelegenheiten des Gedenkens an die Opfer und ihrer Angehörigen bemühen. Die Gedenktage vor der Jungen Gemeinde und am Enver-Şimşek-Platz sind erste Errungenschaften. Verschiedene Veranstaltungen in den letzten Monaten widmeten sich dem Gedenken an die Opfer des „NSU“ in Jena: Wie kann im 21. Jahrhundert ein auf breite Resonanz stoßendes Erinnern gestaltet werden, das keine Schlussstriche zulässt und das Engagement gegen Ausgrenzung und rechten Terror bekräftigt? In diesen Diskussionsrunden kam stets als leuchtendes Beispiel für ein breitenwirksames, ergreifendes und aufarbeitendes Erinnern der Klang der Stolpersteine zur Sprache.
Die Veranstalter der „Kein Schlussstrich“-Reihe sind froh, dass in diesem Jahr der Klang der Stolpersteine am 9. November auch Teil der Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex ist und als Anregung dienen mag, wie in Jena den Opfern des rechten Terrors erinnert werden kann. Auch der Botho-Graef-Kunstpreis der Stadt Jena im kommenden Jahr wird diesem Gedenken an die Opfer des „NSU“ gewidmet. Die leise Hoffnung: Es möge ein Gedenken initiiert werden, das ähnlich bleibend und stets neu bewegend auszufallen vermag, wie es dank einer breiten Unterstützung durch Jenaerinnen und Jenaer dem Klang der Stolpersteine zuteilwird.
Wir danken Till Noack – einem der Initiatoren dieses dezentralen Klang-Denkmals – für seinen heutigen Gastbeitrag in unserem Blog:
Am 09.11.2021 wird in Jena und in Bad Köstritz der „Klang der Stolpersteine“ zu hören sein. Mit über 50 Aktionen ist er so groß wie noch nie. Und auch, wenn es eher leise Töne geben wird, damit auch so mächtig und unüberhörbar wie noch nie. Wer lässt die Stolpersteine klingen und warum?
Blasorchester und Liedermacher:innen, Jazzensemble und Popmusiker:innen, Profis und Amateure, Schulklassen und Pfadfinder, Punker:innen und Alt-Hippies wollen mit den friedlichsten und zivilisatorischsten Mitteln, die es gibt: der Musik, dem gemeinsamen Gesang, an die Verbrechen der Nazis in der Vergangenheit, in fernerer und jüngerer Vergangenheit erinnern. Sie wollen sich vor den Opfern verneigen, der Opfer gedenken, ihnen einen Namen, eine Stimme geben, sie wollen den öffentlichen Raum an diesem Abend in Anspruch nehmen und sie wollen mahnend die Stimme erheben: Nie wieder Faschismus! Sie sind Antifaschist:innen: Konservative, Linke, Freiheitliche, Liberale, überzeugte Christen und überzeugte Atheisten (und natürlich auch Anhänger anderer Religionen), Umwelt- und Naturschützende, Künstler:innen, Heteros und Schwule und Lesben – sie stehen an diesem dunklen, kalten Novemberabend zusammen auf der Straße um zu sagen: Nie wieder!
Dabei knüpfen die Organisatoren bewusst an die Traditionen zivilbürgerlichen Engagements in Jena an. An die Arbeit des AK Judentum und des AK Sprechende Vergangenheit zum Beispiel, aber auch an alle anderen Formen antifaschistischer Arbeit in Jena.
Hier einige (völlig willkürlich herausgegriffene) Beispiele der insgesamt 51 Aktionen an 46 festen Orten :
- Zum 5. Male dabei sind die tiefen Blechbläser der Jenaer Philharmonie. Sie spielen in diesem Jahr am Stolperstein für Frieda und Salomon Hofmann, die 1944 in Auschwitz ermordet worden sind.
- 2021 hat Gunther Demnig 5 neue Stolpersteine in Jena verlegt. Einer davon für ein neunjähriges Roma-Mädchen aus Jena: Sonia Maria Wagner. Schüler:innen der Waldorfschule werden an Sonia erinnern.
- Jeder erinnert sich noch an die Diskussionen um Jussuf Ibrahim: Darf man 1000 gerettete Kinderleben aufwiegen gegen vier Kinder, die dem sicheren Tod mit der Überweisung nach Stadtroda ausgeliefert wurden? Diese Frage werden sich Schüler:innen des Carl-Zeiss-Gymnasiums am Standort der früheren Kinderklinik in der Kochstraße stellen.
- Im September 2021 ist eine Stelle zur Erinnerung an den Todesmarsch am 11.04.1945 eingeweiht worden. Eine Jugendgruppe der Pfadfinder St. Georg wird an diesen dunklen Tag in der Jenaer Geschichte erinnern, an dem auf offener Straße und am hellerlichten Tage mindestens 16 Menschen ermordet worden sind.
- 3 Morde im Verlaufe des 11.04.1945 sind besonders gut belegt, die am Spielplatz Schlippenstraße, der offenbar damals schon Spielplatz war. Schüler:innen des Ernst-Abbe-Gymnasiums werden mit der Band Blechhaufen nach Wegen suchen, diese abscheulichen Morde im Bewusstsein der Stadt zu erhalten.
- Hinter dem Club Kassablanca steht ein Güterwaggon, wie sie zur Nazizeit für Menschentransporte genutzt wurden. Schüler:innen des Otto-Schott-Gymnasiums werden an diesem Ort auch an die Transporte, die von Jena ausgingen, erinnern.
- Die Jugendgruppe des Circus MoMoLo und die Freie Bühne Jena werden auf dem Holzmarkt mahnen.
- 2018 hat ein Schüler der UniverSaale anlässlich des Klangs der Stolpersteine ein Gedicht für Gustav Born verfasst, das später auch vertont worden ist. Auch in diesem Jahr werden Schüler:innen der UniverSaale aktiv. An dem Stolperstein für Luise Eismann, 1940 ermordet, weil sie krank war, und an dem für Heinrich Weidinger, ermordet 1944 weil er schwul war. Und auch in diesem Jahr ist wieder ein Gedicht einer Schülerin der UniverSaale entstanden.
- Seit 2020 ist auch der Enver-Şimşek-Platz ein Ort des Gedenkens. Enver Şimşek war Blumenhändler in Schlüchtern in Hessen, verheiratet, mit zwei Kindern, muslimischen Glaubens. Er war 1985 aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Drei junge Menschen aus Jena haben ihn aus rassistischen Gründen ermordet. Nun spielt ein „Burgauer Trio“ zu seinem Gedenken.
Es ist für uns eine Ehre, in diesem Jahr, dem 10. nach der Selbstenttarnung des Jenaer Terror-Trios, Teil der Aktion „Kein Schlussstrich! Jena und der NSU-Komplex“ zu sein. Es darf niemals einen Schluss-Strich geben unter Terror und Mord!
Manche Aktion beginnt schon 17:00 Uhr oder 17:15 Uhr, aber die meisten 17:45 Uhr und dauern bis 18:15 Uhr.
Punkt 18:15 werden alle Teilnehmer:innen, alle Besucher:innen an allen 46 Orten, verstreut über die ganze Stadt, das jiddische Lied „Dos Kelbl“ singen. Gemeinsam ziehen dann alle zum Westbahnhofvorplatz, um dort noch einmal mit allen Teilnehmer:innen der vom AK Judentum organisierten Gedenkveranstaltung „Dos Kelbl“ zu singen. Es wird leise sein und unüberhörbar.
Till Noack
Alle Stationen des diesjährigen „Klangs der Stolpersteine“ finden Sie hier im Flyer.
Bei welchen Konzerten werden Sie zu finden sein, liebe Leserinnen und Leser? Wir freuen uns auf den Austausch mit Ihnen in den Kommentaren!