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100 Kilometer Horizontale | Hartmut Rosa | Resonanzbeziehungen

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100 Kilometer Zeit für sich selbst - Hartmut Rosa

100 Kilometer Zeit für sich selbst - ein Interview mit Prof. Hartmut Rosa

Prof. Dr. Hartmut Rosa, Soziologe und Buchautor

100 Kilometer zu Fuß, in 24 Stunden. Das ist die „Horizontale – Rund um Jena“, die einmal im Jahr in der Saalestadt veranstaltet wird. Anstrengend und herausfordernd ist diese Langstreckenwanderung definitiv. Für manche Teilnehmer ist die Distanz auch gar nicht zu schaffen. Der Lauf erfreut sich trotz der Strapazen aber extrem großer Beliebtheit. Die Plätze sind jedes Jahr innerhalb weniger Stunden ausgebucht. Viele reizt die Herausforderung oder die schöne Strecke – bei so einer intensiven Wanderung geht es aber um mehr als den sportlichen Aspekt. Es ist eine Möglichkeit, aus dem Hamsterrad des stressigen Alltags auszubrechen. Denn allzu oft vergessen wir, dass da draußen noch etwas anderes auf uns wartet, als Zahlen, Leistung und Erfolg. Warum also nicht eine 100-Kilometer-Wanderung als Intensiv-Kur betrachten?

Beschleunigung als Dauerzustand

Hier ein klingelndes Telefon, da eine Deadline auf der Arbeit und bei den Mails im Posteingang eine Null zu sehen, scheint ein unerreichbares Ziel zu sein. Dinge, die jeder in seinem täglichen Leben kennt. Machen wir irgendetwas falsch? Diese Frage hat sich auch Professor Hartmut Rosa gestellt. Der Soziologe hat mehrere Bücher zum Thema Beschleunigung geschrieben: „Ich habe mir irgendwann gedacht: Wenn wir alle dieses Problem haben, dann liegt es vielleicht gar nicht an uns, sondern an der Realität, die wir geschaffen haben.“ Und diese Realität sieht so aus, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sich nur durch Steigerung erhalten kann: „Die Wirtschaft muss beispielsweise jedes Jahr wachsen, um bestehende Arbeitsplätze zu erhalten. Das übersetzt sich über Wettbewerbszwänge auch in unsere individuelle Lebenswelt. Wir müssen jedes Jahr ein bisschen schneller laufen, um das zu erhalten, was wir haben. Das schafft einen Zeitdruck, erkennbar auch daran, dass unsere To-do-Liste nicht kürzer, sondern immer länger wird“, erklärt Rosa.

Entschleunigung als Lösung?

Jetzt könnte man naiv meinen, die Lösung für unseren Dauerstress sei, einfach einen Gang zurückzuschalten. Laut Hartmut Rosa ist das aber der falsche Ansatz: „Wir brauchen Wachstum und Innovation. Wenn wir einfach langsam machen, bleiben wir zurück.“ Langsamkeit ist per se auch keine erstrebenswerte Qualität – man denke nur an eine stockende Internetverbindung oder an einen Notarzt, der auf sich warten lässt.

Wenn Menschen von Entschleunigung reden, meinen sie eigentlich, dass sie auf eine andere Art mit Menschen oder der Natur in Kontakt treten wollen.

Das Problem ist also gar nicht die Schnelligkeit unserer Zeit, sondern die Unfähigkeit, mit der Welt in Kontakt zu treten: „Wir haben viele Freunde, einen guten Job, verdienen viel – aber nichts davon berührt oder bewegt uns noch.“

Einmal tief durchatmen

Wenn also Entschleunigung nicht die Lösung ist – was dann? „Solange wir das Problem des Steigerungszwangs nicht auf der kollektiven und politischen Ebene angehen, bleibt uns nur der Versuch, aus dem Hamsterrad heraus wieder Verbindungen mit der Welt herzustellen“, erklärt Hartmut Rosa. Er bezeichnet diese Verbindungen als Resonanzbeziehungen: „Man hat das Gefühl, dass eine gewisse Achse zwischen etwas da draußen und dem Inneren entsteht.“ Im Alltag laufen wir oft in einem „Verdinglichungsmodus“ durch die Welt, der auf Optimierung und Rationalisierung ausgelegt ist. Um wieder auf resonante Weise mit der Welt in Kontakt zu treten, gehen manche in die Wüste, andere in die Natur und wieder andere hören Musik.

Garantien gibt es aber keine. Und: Jeder Mensch hat unterschiedliche Resonanzachsen – der eine findet im Wald etwas, der andere nicht. Wenn jemand diese Achse in der Natur findet, kann man die Veränderungen spüren und sehen: „Wir öffnen uns und atmen anders, das kann man bereits an der Körperhaltung erkennen. Menschen versuchen, den Wind zu spüren, Gerüche wahrzunehmen, Geräusche zu hören, die Farben der Pflanzen wahrzunehmen. Sich berühren und verwandeln lassen, nenne ich diese Resonanzhaltung.“ Ideal wäre, diese bewusste Resonanzhaltung auch im Alltag einzunehmen. Manchmal muss man sich aber ein wenig dazu zwingen und sich selbst ein Stückchen „Weltreichweite“ wegnehmen: „Normalerweise legen wir es darauf an, möglichst viel ‚Welt‘ verfügbar zu haben, hauptsächlich durch moderne Technologien.“ Einmal wirklich bewusst zu Fuß zu gehen und Handy, Laptop oder Auto zurückzulassen, verringert die Weltreichweite enorm.

100 Kilometer Zeit für sich selbst

Intensive Wanderungen wie die Horizontale sind so beanspruchend, dass alle anderen Dinge während dieser Zeit überhaupt keine Relevanz mehr haben. Mal schnell nebenher eine E-Mail-Liste abzuarbeiten, geht nicht. „Unsere Wahrnehmung wird zentrierter und fokussierter, weil uns diese Aufgabe komplett vereinnahmt und beschäftigt. Erstaunlich ist auch, dass sich dabei Zeit und Raum ausdehnen. Ich habe das Gefühl, dass diese 100 Kilometer bis zum Ziel eine unendliche Weite sind. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir normalerweise erleben“, erklärt Rosa.

Natürlich spielt der Leistungsgedanke bei der 24-Stunden-Wanderung in Jena oder etwa einem Marathon auch eine Rolle. Schließlich möchte man ins Ziel gelangen und das wenn möglich nicht als Letzter. Genau diese Fokussierung auf eine sehr fordernde Aufgabe kann aber stresslindernd wirken:

Indem man versucht, eine große Strecke zurückzulegen oder eine bestimmte Geschwindigkeit zu erreichen, kann das auch zu einer inneren Entlastung führen,

meint Rosa. „Es ist etwas paradox, aber man kann Entschleunigung oder eben diese Resonanzbeziehungen auch durch Beschleunigung erzielen.“

Letztendlich muss jeder für sich selbst entdecken, wie er wieder in eine bedeutungsvolle Beziehung mit seinem Umfeld treten kann. Egal, ob das durch Wandern, Musik oder Kunst passiert – wichtig ist, dass man diese Resonanzachsen findet. Denn Hartmut Rosa weiß: „Menschen fühlen sich da lebendig, wo sie das Gefühl haben, sie werden von etwas berührt.“ Und das ist es doch, wonach wir alle streben.